Israels soziale Proteste: Neue Ausgangslage im Nahost Konflikt?

Völkerrecht

Von Georgiana Ursprung – Die Israelische Bevölkerung fordert lautstark mehr Aufmerksamkeit für die zahlreichen innenpolitischen Probleme – das hat mögliche Auswirkungen auf die Sicherheitspolitik.

Die seit Mitte Juli andauernden sozialen Proteste, mit bis zu 300’000 Demonstranten/innen, bilden einen der grössten Volksaufstände, die Israel je erlebt hat. Seien es junge Familien, Ärzte/innen, Akademiker/innen oder Taxifahrer – quer durch die ganze Mittel- und Unterschicht haben Menschen sich mit den Anliegen einer empörten Studentin identifizieren können, welche per Facebook zum Campieren auf dem edelsten Boulevard Tel Avivs aufrief, um gegen die unerschwinglichen Mietpreise zu protestieren. Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Die Demonstrationen werden immer grösser, die Zeltstädte, verteilt über das ganze Land, immer zahlreicher. Die Mieten sind jedoch nur ein Beispiel für die allgemein hohen Lebenshaltungskosten im Vergleich zum bescheidenen Einkommen der Mehrheit der Bevölkerung.

Populismus statt Politik fürs Volk
Die rechtsgerichtete Regierung Benjamin Netanjahus ist mit den unerwarteten Protesten komplett überfordert. Noch vor kurzem ritt die Regierung auf einem Popularitätshoch. Die Hoffnungslosigkeit im Friedensprozess gab der tief verinnerlichten und populistisch missbrauchten Angst vor dem äusseren Feind, der jeder Zeit Israel zerstören könnte, unbegrenzten Raum im öffentlichen Diskurs. Diese Atmosphäre hat die Opposition mundtot gemacht und innenpolitische Angelegenheiten an den Rand der politischen Debatte gedrängt.
Die jahrzehntelange Vernachlässigung der Probleme der Mittel- und Unterschicht rächt sich nun in aller Heftigkeit. Die Wut der Bevölkerung verstärkt sich durch die Tatsache, dass vom starken Wirtschaftswachstum der letzten Jahre nur eine exklusive Oberschicht profitiert hat.

Die Opfer für kompromisslose Sicherheit
Bisher wurde eine Verbindung zwischen der explosiven sozioökonomischen Situation und der Besatzungspolitik vermieden. Kritik an der Israelischen Sicherheitsstrategie könnte einen beachtlichen Teil der rechtsgerichteten Protestierenden befremden. Die Teilnahme aller Gesellschaftsgruppen ist gerade die Stärke der sozialen Bewegung.
Der Zusammenhang zwischen den Protesten und dem Nahostkonflikt ist jedoch unbestreitbar. Die Kosten für die Staatssicherheit sind immens – mit Folgen für die Budgets anderer Ministerien. Bisher hiess es: Zuerst muss Israels Sicherheit gewährt sein – erst dann kann man sich den Luxus innenpolitischer Probleme leisten. Je länger die Proteste jedoch andauern, umso eher werden sich die Leute der Opfer bewusst, welche die Sicherheitspolitik von ihnen fordert. Dies könnte zu einem generellen Umdenken in der Gesellschaft führen. Einerseits könnte der Sicherheitsdiskurs als populistisches Ablenkmanöver entlarvt werden und zweitens könnte die Bereitschaft sinken, für die expansive Siedlungspolitik in Cisjordanien und die kompromisslose Sicherheitspolitik zu bezahlen.

Strategiewechsel in der Schweizer Nahostpolitik?
Die Ereignisse zeigen auf, wie innenpolitische Veränderungen die Ausgangslage im Nahostkonflikt beeinflussen können. Die Schweizer Bemühungen im Nahost-Friedensprozess, wie die „Genfer Initiative“, sind allesamt wertvoll. Jedoch sind diese Anstrengungen nur fruchtbar, wenn die Adressaten politisch bereit sind, sie aufzunehmen. Das EDA muss daher die Innenpolitik aller Länder, die am Nahostkonflikt beteiligt sind genau verfolgen und sein Engagement entsprechend anpassen. Die Schweizer Erfahrung mit partizipativer Demokratie kann ein wertvoller Beitrag zur Lösung der sozialen Unruhen sein. Mit kluger Argumentation in Bezug auf die aktuelle innenpolitische Dynamik können auch Initiativen zur Beilegung des kostspieligen Konflikts mit den Palästinensern in der kommenden Zeit in Israel auf offenere Ohren stossen als zuvor.

Georgiana Ursprung studiert Konfliktlösung und Mediation in Tel Aviv nach einem Bachelorstudium in Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

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