Von Amrei Müller und David Suter – Nicht ausufernde Interpretation der Menschenrechte, sondern das vergessene Gegenstück zur Subsidiarität bedingen den Pendenzenberg des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) – Eine Replik auf den Artikel von Brigitte Pfiffner und Susanne Bollinger in der NZZ vom 2. Februar 2012.
Der Artikel „ausufernde Interpretation der Menschenrechte“ der Bundesrichterin Brigitte Pfiffner und Gerichtsschreiberin Susanne Bollinger leidet an einem inneren Widerspruch: Die beiden Problemkreise „Überlastung des EGMR“ und „Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes“ bedingen sich nicht etwa gegenseitig, sondern sind vielmehr sachlich und vor allem geographisch klar zu trennen.
Überlastung als Erfolgsindikator
Es ist nicht der EGMR, der „wesentlich“ durch seine „ausufernde Auslegung“ der Menschenrechte den Pendenzenberg selbst herbeigeführt hat. „Schuld“ an der Beschwerdeflut kann man dem EGMR höchstens dann zusprechen, wenn man sein offenes Ohr für Individuen aus Ländern, die erst in den 1990er Jahren dem Europarat beigetreten sind, als problematisch bezeichnen möchte. Erst mit dem Beitritt dieser Staaten konnten die eingehenden Beschwerden nicht mehr in dem Masse erledigt werden, wie neue hinzukamen. Ursächlich sind zum Teil gravierende, systemische Widersprüche zwischen den nationalen Rechtsordnungen und den Ansprüchen des EGMR, die eine Flut gleich gearteter Beschwerden auslösen.
Die Autorinnen belegen die „ausufernde Interpretation der Menschenrechte“ denn auch nicht mit Urteilen gegen „Strassburgs grösste Kunden“ (Russland, Ukraine, Türkei etc.), sondern mit Beispielen aus Malta, Deutschland und der Schweiz. Im Jahre 2011 ergingen jedoch nur 4 Prozent der Verurteilungen gegen diese drei Länder, lediglich 3 Fälle betrafen die Schweiz. Doch gerade diese Urteile sind wichtig für die Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes. Denn nur bei Staaten mit ausgebautem Menschenrechtsschutz auf nationaler Ebene stellen sich im Einzelfall diffizile Abwägungsfragen zwischen den Rechten des Einzelnen und den berechtigten Interessen des Staates.
Mit dem am 10. Juni 2010 in Kraft getretenen 14. Zusatzprotokoll zur EMRK wurde immerhin dafür gesorgt, dass eine Überprüfung durch den EGMR nicht aus nichtigem Anlass geschieht. Beschwerden wie der „Malta-Wäscheleinen-Fall“ (in dem es um das Recht auf ein faires Verfahren ging) sind also in Zukunft nicht mehr zu erwarten.
Subsidiarität …
Die Autorinnen vermischen nun die Beschwerdeflut mit der Grenzfallproblematik und fordern, dass sich der EGMR auf seine subsidiäre Rolle zurückbesinne. Nach dem Gesagten ist aber klar, dass der EGMR auch mit mehr Zurückhaltung die Beschwerdeflut nicht eindämmen wird. Auch würde die Relativierung der Menschenrechte aufgrund einer falsch verstandenen Staatsräson ein fatales Signal senden in die anderen Regionen der Welt, denen bisher ein wirksames Instrument zum Schutz der Menschenrechte versagt blieb.
Was verleitet die Autorinnen zu diesem Fehlschluss? Sie sind einem verkürzten Verständnis der „Subsidiarität“ aufgesessen, das seinen Ursprung in populistischer Polemik hat, sich jedoch zusehends in Expertenkreisen festsetzt. Subsidiarität meint zwar, dass die EMRK primär durch die Staaten eingehalten werden muss. Sie weist dem EGMR jedoch die wichtige Funktion zu, die effektive Anwendung der EMRK in Europa zu überwachen und zu garantieren. Die Mitgliedstaaten haben diese Funktion des EGMR bei ihrem Beitritt anerkannt. Der EGMR kann und darf sich bei der Anwendung der EMRK im Einzelfall nicht nur an den Umständen, wie sie 1950 bei ihrer Verabschiedung herrschten, orientieren. Vielmehr muss er den gesellschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen im Zeitpunkt der Urteilsfällung Rechnung tragen. Dass er dabei dem nationalen Gesetzgeber oftmals voraus ist, ist nicht nur logische Konsequenz, sondern beabsichtigt und im Sinne eines modernen Menschenrechtsschutzes auch erwünscht.
…ist keine Einbahnstrasse
Damit sind wir beim wichtigen Gegenstück der Subsidiarität angekommen: Es ist dies die primäre Verpflichtung der Staaten, die EMRK in ihrer aktuellen Interpretation durch den EGMR auf nationaler Ebene zu verwirklichen. Der Kern dieser staatlichen Primärverantwortung ist es, seinen Bürgerinnen und Bürgern die Mittel in die Hand zu geben, mit denen sie die Konformität einer staatlichen Massnahme mit der EMRK überprüfen lassen können. Wenn der Staat dieser Primärverpflichtung nicht nachkommt, muss ihm der EGMR mit Verweis auf die Effektivität und historische Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzesentgegentreten. Der EGMR kann also immer nur in dem Masse subsidiär handeln, wie die Staaten ihrer Primärverpflichtung nachgekommen sind. Gerade im Asyl- und Fremdenwesen sind staatliche Defizite besonders virulent und haben entsprechend viele Verurteilungen durch den EGMR ausgelöst.
In diesem Lichte sind auch die Piloturteile des EGMR zu verstehen: Sie erwachsen nicht, wie die Autorinnen vermuten lassen, aus einem Verlangen des Gerichtshofs, durch seine Urteile immer weiter in innerstaatliches Recht einzugreifen, sondern zielen darauf ab, den Staaten konkrete Hinweise zu geben, wie sie ihrer Primärverpflichtung nachkommen sollten. Nicht die „ausufernde Interpretation der Menschenrechte“ verursacht also die vielen Beschwerden in Strassburg, sondern vielmehr die Nichtbeachtung der primären Umsetzungspflicht. Aufholarbeit in den Staaten ist hier das richtige Rezept, und nicht die Disziplinierung des personell und finanziell sowieso nicht besonders grosszügig ausgestatteten EGMR.
Amrei Müller, PhD, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zürcher Institut für Völkerrecht und Gast im forausblog, Kontakt: amrei.mueller@rwi.uzh.ch .
David Suter, lic. iur., ist Doktorand am Zürcher Institut für Völkerrecht und Mitglied der foraus-Arbeitsgruppe Völkerrecht, Kontakt: david.suter@gmx.ch.
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