Von Stefan Schlegel – Die neueste Eruption der Asyldebatte zeigt, wie stark die Asylpolitik von einem Machbarkeitswahn gezeichnet ist. Das Werweissen über die Länge der Asylverfahren vermittelt den falschen Eindruck, die hiesige Politik habe einen wesentlichen Einfluss auf die Zuwanderung über das Asyl-System. Das Asyl-Jahr 2011 zeigt nun: Durch den Arabischen Frühling ist die Festung Europa noch mehr zur Farce geworden.
„Freilich verraten gerade unsere gewaltigsten Pläne nicht selten am deutlichsten den Grad unserer Verunsicherung. So lässt sich am Festungsbau gut zeigen, wie wir, um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen, gezwungen sind, in sukzessiven Phasen uns stets weiter mit Schutzwerken zu umgeben, so lange, bis die Idee der nach aussen sich verschiebenden konzentrischen Ringe an ihre natürlichen Grenzen stösst.“ W.G. Sebald, Austerlitz
Europa wendet in der Bekämpfung irregulärer Migration dieselbe Methode an, wie Amerika in der Bekämpfung des Terrorismus: Die Grobarbeit wird ausgelagert an Staaten, deren Handlungsfreiheit nicht durch die Bindung an Grundrechte eingeschränkt ist. Nun, da die Tyrannen im Maghreb fehlen, merken wir das bei uns. Da vorläufig niemand mehr bereit ist, durchreisende Migrierende zusammenzutreiben und auf unbestimmte Zeit einzupferchen, reisen sie wieder durch. Die Festung Europa steht nicht in Lampedusa und am Evros, sondern in Mauretanien, in Tunesien und in Libyen. Sie verläuft durch die Sahara und ist im doppelten Sinne auf Sand gebaut, wie der Arabischen Frühling nun zeigt. Sie hing von instabilen Regimes ab. Im vergangenen Jahr haben die Asylgesuche um 45% zugenommen; im Januar 2012 wurden mehr als doppelt so viele Asylgesuche gestellt, wie im Januar 2011.
Zwei Fehler teilen alle
Die Reaktionen in Europa und in der Schweiz sind hysterisch und hilflos. Die Bundesverwaltung arbeitet am Flickwerk des Asylgesetzes weiter und scheint selber nicht recht zu glauben, dass damit eine ernsthafte Verkürzung der Verfahren erreicht wird. Die FDP (und neuerdings auch der Bundesrat) wollen eine strikte Anbindung der Entwicklungszusammenarbeit an die Rücknahme abgewiesener Asylsuchender, Christophe Darbellay möchte Menschenrechte nicht länger „als Ausrede“ hören (das heisst, er will durchgreifen, egal was das für die Menschenrechte bedeutet) und Rudolf Strahm rät staatsmännisch: „Klotzen nicht klötzeln.“ Er portiert damit den populären Irrglauben, durch Entwicklungszusammenarbeit könne Migration verhindert werden. Allen Akteuren ist gemeinsam, dass sie zwei Fehleinschätzungen treffen: Sie unterschätzen massiv die Vorteile, die Migration – auch irreguläre Migration – für die Betroffenen und deren Herkunftsstaaten hat und sie überschätzen massiv die Möglichkeiten der Schweiz, Menschen effektiv vom Territorium des Landes zu entfernen.
Migration ist der Express-Lift
Die erste Fehleinschätzung führt zum recht naiven Glauben, dass einerseits potentielle Migrierende durch die Almosen der Schweiz von ihrem Vorhaben abgebracht werden könnten und zu Hause blieben. Noch fast blauäugiger ist die Annahme, die Regierungen der Herkunftsstaaten liessen sich von der Drohung der Schweiz, die Entwicklungszusammenarbeit zu streichen, dermassen beeindrucken, dass sie ihre Migrierenden bereitwillig zurücknähmen.
Migration ist der mit Abstand effizienteste soziale Aufzug. Sie gelingt nicht allen, aber wenn sie gelingt, ist Migration die einzige Strategie, innerhalb einer Generation den Sprung vom Habenichts zum Mittelstand zu schaffen. Auf diese Chance zu verzichten und stattdessen auf die langsamen, minimen und unsteten Fortschritte zu hoffen, die Entwicklungszusammenarbeit bewirken kann, wäre aus der Sicht der Migrierenden verantwortungslos. Sie haben auch nur ein Leben lang Zeit um auf einen grünen Zweig zu kommen.
Auch Tunesier können rechnen
Erfolgreiche Migrierende können für ihren Herkunftsstaat zu einem wichtigen und zuverlässigen Entwicklungsfaktor und zu einer substanziellen Quelle für Haushaltseinkommen werden. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern, aus denen Menschen in die Schweiz migrieren, ist der Rückfluss von Geld der eigenen Auswandernden viel wichtiger als Entwicklungszusammenarbeit. Wer glaubt, die Herkunftsstaaten verzichteten auf dieses Geld, nur um den Hilfsgroschen der Schweiz nicht zu verlieren, unterstellt den Regierungen der Herkunftsstaaten, sie könnten nicht rechnen.
Für die Herkunfts- und Transitländer entsteht noch ein weiterer Vorteil durch das Drängen ihrer Einwohner nach Europa: Verhandlungsmacht. Je mehr Menschen aus einem Land bei uns sind oder noch kommen könnten, desto grösser der Preis, der ein Herkunftsstaat für Kooperation aushandeln kann. Strategien, die in der Unterdrückung von Migration auf die Mithilfe des Herkunftsstaates bauen, sind daher nicht nur problematisch, weil sie eine polizeiliche Kooperation mit einem Polizeistaat bedeuten, sondern auch weil westliche Staaten sich dadurch von der Willkür eines Polizeistaaten abhängig machen.
Pechvögel plagen
Die zweite Fehleinschätzung besteht in der Ansicht, ein Staat könne Menschen physisch von seinem Territorium entfernen, wenn er nur wolle. Doch wer es einmal hinein geschafft hat in die löchrige Festung Europa, muss Pech haben, um tatsächlich aus der Mühle der Repression nicht mehr entrinnen zu können und nach Hause gebracht zu werden. Die Meisten können sich entziehen. Eine Verschärfung repressiver Massnahmen hat in der Regel zwei Folgen: Sie beschleunigt das Untertauchen und sie trifft die Schwächsten am härtesten.
Es ist daher Zeit die Lehre zu ziehen: Die Festung Europa blockiert uns, die drinnen sind mehr als die, die von draussen kommen. Wir brauchen eine andere Taktik im Umgang mit Migration aus Drittstaaten. Welche?
Stefan Schlegel wohnt in Bern. Er ist Jurist und Gründungsmitglied von foraus – Forum Aussenpolitik. Er leitet die Arbeitsgruppe Migration und ist Mitglied der Redaktion des foraus-Blog.Der foraus-Blog ist ein Forum, das sowohl den foraus-Mitgliedern als auch Gastautoren/innen zur Verfügung gestellt wird. Die hier veröffentlichten Beiträge sind persönliche Stellungsnahmen der Autoren/innen. Sie entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder des Vereins foraus.