Von David Suter – Der 2010 angestossene «Interlaken Prozess» ging im April unter britischem Patronat in die dritte Runde. Die Cameron-Regierung nutzte die Konferenz in Brighton für einen Frontalangriff auf das System des europäischen Menschenrechtsschutzes. Das Ministerkomitee des Europarates liess die Attacke ins Leere laufen, am eingeschlagenen falschen Weg hält es aber fest.
Die Konferenz des Ministerkomitees in Brigthon/UK im April 2012 war die Fortsetzung des «Interlaken-Prozesses», wie er 2010 unter Schweizer Schirmherrschaft initiiert worden war. In einem «Action Plan», der sich gleichermassen an die Europarats-Mitgliedstaaten, das Ministerkomitee und den Gerichtshof richtete, wurden damals Massnahmen beschlossen, um der steigenden Beschwerdeflut Herr zu werden. Neben dem formalen Bekenntnis, dass die Staaten die primären Garanten der Menschenrechte sind und dass das Recht auf berechtige Individualbeschwerde nicht beschnitten werden sollte, wurde dem EGMR auch ins Stammbuch geschrieben, dass er «kein Gericht vierter Instanz» sei und dass ihm nur eine «subsidiäre Rolle» bei Interpretation und Anwendung der Konvention zukomme. In der «Izmir-Deklaration» von 2011 mahnten die Minister zu mehr Zurückhaltung des EGMR bei der Anordnung vorsorglicher Massnahmen in Ausweisungsfällen.
Die Lösung läge in den Mitgliedstaaten
Der Reformprozess fusste damit von Anfang an auf einer falschen Grundlage, indem er implizit den Gerichtshof für die Beschwerdeflut mitverantwortlich machte und dadurch die Diskussion um wirkliche Lösungen – verbesserte Umsetzung der EMRK und der EGMR-Urteile auf nationaler Ebene, Erhöhung des EGMR-Etats – verunmöglichte. Bei dieser Ausgangslage wurde der nächste Reformschritt unter dem erklärtermassen EGMR-kritischen britischen Patronat mit grosser Beunruhigung erwartet.
In der Tat schwebte der von der tendenziösen Commission for a UK Bill of Rights vorgebrieften britische Regierung nichts weniger vor, als das Recht auf individuelle Beschwerde abzuschaffen und dem EGMR nur mehr die Kompetenz zu belassen, ausgelesene Fälle zu überprüfen (certiorari-System). Ein Leak des Vorentwurfs und daraufhin die geharnischte Intervention einer NGO-Koalition waren sicherlich mitentscheidend dafür, dass die finale «Brighton Declaration» in den wesentlichen Punkten entschärft wurde. Insbesondere wurde die primäre Verantwortung der Staaten für die Umsetzung der EMRK bekräftigt und dem EGMR zugestanden, dass er die EMRK «autoritativ interpretiert». Übrig blieb des Bedenklichen genug (Auswahl):
- Die Kürzung der Beschwerdefirst von 6 auf 4 Monate wird nicht zu weniger, sondern zu schlechteren Beschwerden führen, deren Bearbeitung den EGMR blockiert.
- Nach dem 14. Zusatzprotokoll kann der EGMR Beschwerden abweisen, wenn sie auf nichtigem Anlass beruhen. Die Schutzklausel, dass der Gerichtshof einen Fall dennoch überprüfen darf, wenn er auf nationaler Ebene nicht ordentlich geprüft worden war, soll gestrichen werden. Im Effekt sind nun die Staaten frei, die Rechtsweggarantie bei kleineren Fällen gänzlich aufzuheben.
- Das Ministerkomitee wurde bei der Urteilsumsetzung entgegen dem Vorentwurf nicht gestärkt.
- Ein Beitrag zum «Human Rights Trust Fund» wurde gegenüber dem Entwurf für freiwillig erklärt, dafür aber die Notwendigkeit einer «umsichtige Ausgabenpolitik» betont. Dabei hat die Sekundierung der EGMR-Kanzlei durch nationale Richter gezeigt, dass der Beschwerdeberg am einfachsten und effektivsten durch mehr Personal, also mehr Geld, abgebaut werden kann.
Seilziehen um ein Symbol
Besondere Erwähnung verdient der britische Versuch, das Prinzip der «Subsidiarität» so zu interpretieren, dass damit den nationalen Behörden eine Vorrangstellung vor dem EGMR zukommt (s. schon Blog vom 16.02.2012), und die Doktrin einer «margin of appreciation» zu definieren als Freipass für die Staaten, nach eigenen Gutdünken abschliessend über die geeignetste Form der EMRK-Umsetzung zu befinden. Beide Prinzipien entspringen zwar der Gerichtspraxis des EGMR, die vorgeschlagene Aufnahme in den Konventionstext hätte aber ihre ursprüngliche Bedeutung als Prinzipien der richterlichen Rechtsauslegung pervertiert und in ihr Gegenteil gekehrt. «Subsidiarität» und «margin of appreciation» werden künftig zwar in die Präambel aufgenommen, entfalten an dieser Stelle aber keine rechtliche Wirkung – ein Leerlauf, der viel politische Energie gekostet hat.
Während viele Kommentatoren ihre Erleichterung über die endgültige Formulierung der Deklaration zum Ausdruck bringen, stellt sich die grundsätzliche Frage, wohin der «Interlaken Prozess» führen soll. Der EGMR hat in den letzten Jahren durch neue Verfahren und seine Priorisierungspolitik gezeigt, dass ein effektiver, gesamteuropäischer Menschenrechtsschutz im bestehenden System möglich ist. Im Zuge des 14. Zusatzprotokolls schmilzt sogar der Beschwerdeberg langsam, aber sicher dahin. Ungeachtet dieser Erfolge hat sich der Reformprozess einseitig auf eine Beschneidung dieser Errungenschaften versteift.
Für die Schweiz bietet sich hier die Gelegenheit, eine moralische Gegenoffensive zu starten und dem Image als finanzpolitischer Paria ihre Vorbildfunktion im Bereich Menschenrechte entgegenzustellen. Voraussetzung ist, dass wir uns diese Themenführerschaft durch eine mustergültige nationale Rechtsordnung erstreiten: Der Grundrechtsschutz muss entgegen nationalkonservativer Vorbehalte weiter verstärkt werden. Gute Vorschläge im Bereich des Initiativrechts oder der noch unvollständigen Verfassungsgerichtsbarkeit sind bereits auf der politischen Agenda.
David Suter, lic. iur., ist Doktorand am Zürcher Institut für Völkerrecht und Mitglied der foraus-Arbeitsgruppe Völkerrecht, Kontakt: david.suter@gmx.ch.
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