Von Stefan Schlegel – Die Debatte über Migration geht von abnehmender Zuwanderung aus Drittstaaten aus, wenn diese sich wirtschaftlich erholen. Das neue foraus-Diskussionspapier zeigt, dass eher das Gegenteil passiert. Die Idee einer abnehmenden Zuwanderung bei abnehmendem Wohlstandgefälle hat auch mit Wunschdenken zu tun: Migration wird als Krise empfunden, die vorbeigehen muss.
„Kann man wirklich annehmen, eine so weit ausholende gesellschaftliche Bewegung sei durch die Anstrengungen einer Generation aufzuhalten? Meint man, die Demokratie werde, nachdem sie das Feudalsystem zerstört und die Könige überwunden hat, bei den Bürgern und den Reichen zögern? Wird sie jetzt einhalten, da sie so stark geworden ist und ihre Gegner so schwach?“
Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1835
foraus hat die Aufgabe, ein Scharnier zu sein zwischen Politik und Wissenschaft, wenn die Politik zu wenig zur Kenntnis nimmt, zu welchen Ergebnissen die Wissenschaft gelangt und die Wissenschaft zu wenig Einfluss hat auf politische Massnahmen, die sie nicht als zielführend empfinden kann.
Das erschienene foraus-Diskussionspapier widmet sich einem Thema, zu dem fast vollständiger gegenseitiger Autismus herrscht zwischen Wissenschaft und Politik. Es geht um die Frage, inwiefern Migration sich durch die Politik steuern lasse, insbesondere um die Idee, durch Entwicklungszusammenarbeit in den Herkunftsstaaten liessen sich die Gründe der Auswanderung beheben und der Migration daher vorbeugen.
Dieses Paradigma der „Hilfe vor Ort schafft weniger Zuwanderung“ gilt in der politischen Debatte der Schweiz als Binsenwahrheit. Insbesondere die Parteien, die Zuwanderung aus Drittstaaten senken möchten, greifen auf diese Idee zurück und suggerieren damit, es gäbe eine Lösung, um Zuwanderung aus Drittstaaten dauerhaft zu senken. Das Diskussionspapier zeigt aber auf, dass kein Zusammenhang zwischen einsetzendem wirtschaftlichen Wachstum und abnehmender Migration nachgewiesen werden kann.
Denn Migration ist enorm teuer (und wird durch Repression zusätzlich verteuert). Wo wirtschaftliche Entwicklung dazu führt, dass Menschen finanziellen Spielraum bekommen, wird die Auswanderung erst zu einer attraktiven Option. Einsetzende wirtschaftliche Entwicklung führt daher nicht selten zu einer Zunahme der Auswanderung. Auch in der Schweiz war das so: Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung einsetzte, fand dadurch eine ganze Generation die finanziellen Mittel, ihr Glück in der Fremde zu suchen. In den Sozialwissenschaften ist dieses Phänomen als Migrationsbuckel bekannt.
Nichts gegen Entwicklungszusammenarbeit
Daraus darf nicht der Schluss gezogen werden, Entwicklungszusammenarbeit müsse gekürzt werden, damit Menschen in Entwicklungsländern weiterhin arm genug sind, um sesshaft zu bleiben. Entwicklungszusammenarbeit hat einen viel zu geringen Einfluss, um für das Einsetzen einer wirtschaftlichen Entwicklung mit Breitenwirkung verantwortlich zu sein. Es soll lediglich gezeigt werden, wie naiv die Idee ist, Migration sei ein Ausdruck bitterster Armut und sie werde aufhören, wenn es gelinge, diese Armut zu überwinden.
Abgesehen davon ist diese Idee auch gefährlich, weil sie dazu führen könnte, dass Entwicklungsgelder dort eingesetzt werden, wo das grösste Migrationspotential geortet wird, statt dort, wo die grösste Entwicklung möglich wäre.
Vielleicht hängt die fast vollständige Ignoranz des Migrationsbuckels im politischen Diskurs daran, dass wenig qualifizierte Migrierende aus Drittstaaten keine Lobby haben, die in die Diskussion einbringen könnte, was gegen den gegenwärtigen Umgang mit ihnen spricht. Wo ein Defizit in der politischen Vertretung von Interessensgruppen vorliegt, besteht das Privileg der Rechtsschöpfer, die Mythen, auf denen sie ihre Scheinlösungen bauen, nicht gegen die zuwider laufenden Fakten verteidigen zu müssen.
Der Wunsch ist Vater des Gedankens
Noch wichtiger für die Verdrängung des Migrationsbuckels aber ist die verbreitete, unterschwellige Idee, Zuwanderung werde vorbei gehen. Sie wird als eine Störung der natürlichen Ordnung empfunden, die überwunden werden muss. Daraus ergibt sich, dass die Frage nach anderen Zukunftsszenarien als nach dem der abnehmenden Migration gar nicht gestellt wird und die Idee fixiert wird, es müsse Rezepte zu deren dauerhaften Reduktion geben. Je mehr Rezepte schon prima vista ausscheiden, desto unerbittlicher und blinder für Argumente werden die anderen verfolgt.
Das lässt keinen Raum für einen wichtigen Gedanken, der schon Alexis de Tocqueville unbequem war: Wenn wir selber unter keinen Umständen verzichten wollten auf die Möglichkeiten einer liberalen Marktwirtschaft und der damit verbundenen Möglichkeit, die eigene Arbeitskraft dort zu Markte zu tragen, wo sie einen realen Wert hat; was macht uns glauben, dass es uns auf Dauer gelingen werde, jene von diesem Privileg auszuschliessen, die es momentan noch nicht geniessen? Wenn die Feudalherren die Bürger nicht vom Privileg der Gleichberechtigung ausschliessen konnten und die Bürger nicht die Massen des einfachen Volkes, was spricht dafür, dass es dem Volk gelingen sollte, die Wanderarbeiter vom Zugang zu gleichen Rechten fernzuhalten?
Stefan Schlegel, wohnt in Bern. Er ist Jurist und Gründungsmitglied von foraus – Forum Aussenpolitik. Er leitet die Arbeitsgruppe Migration, ist Mitglied der Redaktion des foraus-Blog und zusammen mit Vera Eichenauer und Joanna Menet Co-Autor des foraus-Diskussionspapiers “Verhindert wirtschaftliche Entwicklung Migration? Eine Einschätzung populärer Rezepte zum Umgang mit Migration aus Drittstaaten: Entwicklungszusammenarbeit und Repression”.
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