Lieber Operette als Drama: Warum die Zukunft den kleinen Staaten gehört

Europa

Von Stefan SchlegelIn einer Welt, die nicht permanent vom Krieg bedroht ist, sind Kleinstaaten lebenswerter, sicherer und bezahlbarer als grosse Staaten. Eine Voraussetzung für das Erfolgsmodell ist allerdings, dass die Kleinstaaten gemeinsame Probleme gemeinsam lösen (und finanzieren) lernen.

„Ich bin für den Kleinstaat. Er richtet weniger Schaden an.“

Friedrich Dürrenmatt

„Wir sehen, dass eine Welt kleiner Staaten nicht nur die Probleme sozialer Brutalität und des Krieges lösen würde; sie würde die gleichermassen schrecklichen Probleme der Unterdrückung und der Tyrannei lösen, ja alle Probleme, die sich aus der Macht ergeben. Tatsächlich gibt es kein Elend auf der Welt, mit dem man im kleinen Ausmass nicht erfolgreicher umgehen könnte, wie es überhaupt kein Elend auf der Welt gibt, mit dem man anders umgehen könnte, als im kleinen Masse.“

Leopold Kohr, Das Ende der Grossen, 1957

 

Sind Kleinstaaten Auslaufmodelle in einer multipolaren Welt? Werden sie aufgerieben zwischen den vielen Grösseren, wenn es keine Supermächte mehr gibt, in deren Kielwasser sie ihre Provinzialität ruhig weiter pflegen können?

Kleinstaaten haben weniger Möglichkeiten, den Frieden zu stören, sie haben weniger Möglichkeiten, das Pathos des Nationalismus zu mobilisieren und sie verursachen weniger Reibungsverlust in ihren Bürokratien, weshalb ihre Bürger/innen mehr bekommen für weniger. In Zeiten, an denen der Rost des langen Friedens nagt, sind Kleinstaaten daher besser aufgestellt als grosse, Block-bestimmende Staaten. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat eine stille Renaissance der Kleinstaaten eingesetzt, besonders in Europa. Viele von Ihnen entstanden neu. In der Krise bewähren sie sich im Schnitt besser als die Grossen. Kleinstaaten mit zwischen einer und – sagen wir – 20 Millionen Einwohner sind gross genug, um die Ressourcen für die Lösung fast aller politischer Probleme aufzubringen. Und sie sind klein genug, um noch reformierbar zu sein. Staaten mit mehr als 20 Millionen Einwohner sind ein Anachronismus, ein Überbleibsel der Reichs-Vorstellung, in deren Zentrum nicht das Wohl der Einwohner steht, sondern die abstrakte Idee einer „Nation“, einer Gemeinschaft, die wichtiger ist als das Wohlbefinden ihrer Mitglieder. Das Konzept stammt von machtbewussten Monarchen und rührseligen Idealisten, die glaubten, eine Gemeinschaft, die Menschen gleicher Herkunft zusammenschliesse, werde selber eine Art höheres Wesen, ein „Volkskörper“ beseelt von einem „Volksgeist“. Auf die Dauer werden solche sentimentalen Gebilde nicht zu erhalten sein, dafür sind sie zu teuer und zu gefährlich. Wo die vereinnahmende Aggressivität des Zentralstaates allmählich domestiziert wird, muss dieser seinen Bestandteilen mehr Autonomie einräumen oder in kleinere Teile zerfallen. Die momentan thematisierten Abspaltungen Schottlands, Flanderns und Kataloniens vom Zentralstaat, und der Umstand, dass Nordrhein-Westfalen mit den BENELUX-Staaten Staatsverträge abschliessen will, sind erste Anzeichen dieser Sinnkrise ehemaliger Reiche. Hinzu kommen Unabhängigkeitsregungen in Korsika, dem Baskenland, dem Südtirol und Bayern (!). Es muss von einem klaren Trend gesprochen werden.

Sicherheit und Binnenmarkt sind Allmendprobleme

Diese Emanzipation der Kleinen erfolgt aber unter einer wichtigen Bedingung, die der Schweiz bislang fehlt: Ein Modus zur Lösung jener Probleme, für die Staaten – auch die grossen europäischen Staaten – zu klein sind: Die Schaffung eines genügend grossen Binnenmarktes und ein System der gemeinsamen Sicherheit. Die Lösung dieser Probleme (oder der Versuch dazu) ist ein öffentliches Gut, das zu erstellen sehr kostspielig ist und von dem Trittbrettfahrer nur schwer ausgeschlossen werden können. Es könnte daher sein, dass auch in einer multipolaren Welt jener Kleinstaat auf einmal sehr alleine in der weiten Welt steht, der nicht an den Kosten für die Erstellung dieser gemeinsamen Güter partizipiert. Dieses Problem muss die Schweiz lösen. Sie muss sich eingestehen, dass es bei allen Tugenden der Kleinheit Herausforderungen gibt, die nur regional oder global gelöst werden können und dass es dazu einen institutionellen Rahmen braucht.

Die übrigen Staaten Europas haben zwei Probleme zu lösen: Sie müssen ein Verfahren entwickeln, wie die Kleinstaaten, die nach Abspaltung vom Zentralstaat streben, friedlich und reibungslos aus dem ehemaligen Imperium gelöst und in die EU integriert werden können. Und sie müssen einen Mechanismus finden, der die Kleinräumigkeit auf Dauer bewahrt und eine schleichende Akquisition von Kompetenzen durch die neue, selbst errichtete zentrale Institution EU verhindern kann. Dieses Problem stellt sich umso dringender in der Krise, in der klar wird, wie stark die gemeinsamen Institutionen nach wie vor von grossen Mitgliedstaaten dominiert werden. Diese können ihren Einfluss noch vergrössern, wenn sie der zentralen Institution, die sie selber dominieren, mehr Macht zuschanzen.

Vielleicht könnte hierfür die multipolare Schweiz ein gutes Modell liefern, die ihrerseits aus Kleinstaaten aufgebaut ist, die sich in den mehr als 160 Jahren ihrer Gemeinschaft recht erfolgreich dagegen gewehrt haben, von der nächstgrösseren Macht schleichend um ihre Kompetenzen gebracht zu werden.

Mut zur Lächerlichkeit

Wer sich das würdevolle und hochherzige Gebaren grosser Staaten und ihrer Staatsmänner gewohnt ist, dem mag das Beharren auf kleinräumige Verwaltung krämerisch und lächerlich vorkommen. Aber Lächerlichkeit und Provinzialität sind ein kleines Übel, wenn die Alternative dazu martialischer Pathos oder nur schon unfinanzierbar grosse und komplexe Strukturen sind. Schon 1957 schrieb Leopold Kohr: „Wann werden unsere Theoretiker endlich begreifen, dass der grösste Segen, der uns unsere Staatsmänner bescheren können, darin liegt, die Tragödie der modernen Massenexistenz zurück in die lächerlichen Probleme einer Operette zu verwandeln?“ Wir sollten die Operette des Kleinstaats dem Drama der grossen Weltbühne vorziehen.

Stefan Schlegel wohnt in Bern. Er ist Jurist und Gründungsmitglied von foraus – Forum Aussenpolitik. Er leitet die Arbeitsgruppe Migration und ist Mitglied der Redaktion des foraus-Blog.

Der foraus-Blog ist ein Forum, das sowohl den foraus-Mitgliedern als auch Gastautoren/innen zur Verfügung gestellt wird. Die hier veröffentlichten Beiträge sind persönliche Stellungsnahmen der Autoren/innen. Sie entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder des Vereins foraus.