David Kaufmann – Die Ausrufung des Ausnahmezustandes im Schweizer Asylwesen ist weder angesichts der Quantität noch der Qualität der Asylanträge zu begründen. Vielmehr liefert die Konstruktion eines Ausnahmezustandes die vermissten Argumente für Schweizer Politiker, um sich mit Asylgesetzverschärfungen zu profilieren.
Hans Fehr diagnostiziert auf dem Tages-Anzeiger Blog dem Schweizer Asylwesen, dass es ausser Rand und Band sei und deshalb weitere Initiativen und Vorstösse unabdingbar seien, um dem Chaos Einhalt zu gebieten. Ähnliche Argumentationslinien und Terminologien (Asylchaos stoppen, Asylchaos in der Schweiz, keinen Spielraum mehr im Asylbereich) können in der Schweizer Politik und Medienlandschaft einfach entdeckt werden. Es lässt sich ein Diskurs erkennen, in welchem dem vermeintlichen Chaos im Asylwesen eine solide und rationale Schweizer Ordnung gegenüber gestellt wird, welche durch viele unberechtigte Asylanträge in Gefahr gerät. Dies würde eine Ausnahmesituation kreieren, in der das Schweizer Asylsystem bald nicht mehr fähig sein werde, “echte Flüchtlinge“ zu schützen.
Kontinuität von schwankenden Asylgesuchszahlen
Ein Vergleich der Anzahl Asylanträgen zwischen Europa und der Schweiz der letzten Jahre zeigt auf, dass die These einer besonderen Notsituation aufgrund von ausserordentlich vielen Asylanträgen verworfen werden kann. Die Liniendiagramme lassen erkennen, dass die Bewegungen der Asylanträge in Europa und in der Schweiz vergleichbar verlaufen. Unbestritten weist die Schweiz in Europa überdurchschnittlich viele Asylanträge pro Kopf auf, jedoch ist dies eine kontinuierliche Erscheinung, welche weder durch die Vorsteherin/den Vorsteher des Justizministeriums noch durch Asylgesetzverschärfungen beeinflussbar ist. Die Grafiken zeigen: Die Schweiz verzeichnet keine Explosion von Asylanträgen im europäischen Vergleich. Vielmehr sind überdurchschnittlich vielen Asylanträge ein konstantes Merkmal des Schweizer Asylwesens, auf das es sich einzustellen gilt.
Zusätzlich kann aus der Ähnlichkeit der beiden Kurvenbewegungen gefolgert werden, dass die Anzahl Asylanträge hauptsächlich durch Faktoren ausserhalb Europas – wie zum Beispiel Kriege und Situationen allgemeiner Gewalt – bedingt sind.
Hohe Qualität der Asylanträge
Die tatsächliche Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden, basierend auf den Anerkennungsraten des BfM, stützt das Argument eines weitverbreiteten Asylmissbrauchs in der Schweiz nicht. Rund 50 Prozent aller Personen, die in der Schweiz Asyl beantragen, wird Schutz gewährt (Asyl oder Vorläufige Aufnahme). Werden nur die Verfahren betrachtet, in denen eine inhaltliche Prüfung des Schutzbedarfs erfolgt – also ohne die Dublin-Fälle – dann liegt die Schutzquote sogar bei rund 70 Prozent. Im Schweizer Asylverfahren ist somit die Schutzgewährung durch das Asylverfahren eher die Regel als die Ausnahme.
Konstruierter Ausnahmezustand fordert Scheinrezepte ein
Weder die Quantität noch die Qualität der Asylanträge kann die Proklamation eines Ausnahmezustands im Schweizer Asylwesen rechtfertigen. Dringlichkeitsbeschlüsse durch das Parlament oder weitere Initiativen und Vorstösse für mehr Repression und Verschärfungen im Asylbereich verlieren bei genauer Betrachtung ihre Legitimation.
Die Konstruktion einer Ausnahmesituation kann gefährliche Polit-Possen, wie sie das Schweizer Parlament im Sommer/Herbst 2012 erlebt hatte, zur Folge haben. Dies weil der Ausnahmezustand Sofortmassnahmen jeder Art einfordert. Eine Debatte auf Grundlage einer konstruierten Ausnahmesituation produziert zwangsläufig Scheinrezepte. Besser wäre den sprunghaften Charakter von Asylgesuchszahlen – und dadurch auch einer gewisse Autonomie der (Asyl)Migration – als Kontinuität anzusehen, um Lösungen zu finden, welche die Schwankungen der Asylzahlen auffangen könnten ohne sich in einem Diskurs von Chaos und Ausnahme verwirren zu müssen.
Wer ist genau ausser Rand und Band?
Die Erkenntnis, dass die Diskontinuität eine kontinuierliche Eigenschaft des Asylwesens darstellt, wird von ausführenden Entscheidungsträgern auf den föderalen Ebenen nicht bestritten. An einer Asylkonferenz im Januar 2013 thematisierten Vertreter von Bund, Kantone, Gemeinden und Städte den Umgang mit Schwankungen. Sie einigten sich auf den Aufbau von Reservestrukturen und verpflichteten sich die erforderlichen Ressourcen in der Unterbringung, des Personals und der Finanzierung sicher zu stellen, damit flexibel auf die Asylbewegungen reagiert werden kann.
In Anbetracht dieser positiven Ansätze möchte ich dem Asylbereich in erster Linie einmal Ruhe und Distanz von der überproportionalen öffentlichen Aufmerksamkeit verordnen. Es scheint nämlich, dass sich ausserhalb des “Asylchaos-Diskurses“ durchaus konstruktiv arbeiten lässt. Ausser Rand und Band erscheinen somit eher diese Schweizer Politexponenten, welche sich einer simplen und kontinuierlichen Bewirtschaftung des Asylthemas verschrieben haben.
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