Realitätsfremde Rechtswirklichkeit – wann wird der Islam öffentlich-rechtlich anerkannt?

Migration

Das religiöse Bild der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten vielfältiger geworden. Die politische und rechtliche Schweiz sollte dieser Entwicklungen Rechnung tragen und nicht-christlichen und nicht-jüdischen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit gewähren, sich öffentlich-rechtlich anerkennen zu lassen. 

 

Die Schweizerische Religionslandschaft hat sich in den vergangenen 50 Jahren erheblich verändert. Durch die Migration ist die Religionslandschaft in der Schweiz immer vielfältiger geworden. Dieser Tatsache steht der historisch gewachsene verfassungsrechtliche Rahmen gegenüber: Er ist nicht mehr in der Lage, die religiöse Realität zu erfassen und steht bezüglich der fehlenden Anerkennung nicht-christlicher und nicht-jüdischer Religionsgemeinschaften unter einem Rechtsfertigungsdruck. Unter diesem Eindruck sprach der Kanton Basel-Stadt im Jahr 2012 den Aleviten als erste nicht-christliche und nicht-jüdische Religionsgemeinschaft in der Schweiz die „Kleine Anerkennung“ zu. Eine Anerkennung, die durch einen Parlamentsbeschluss erfolgte und vor allem symbolischen Charakter hatte. So veränderten sich weder die Rechte noch die Pflichten der Aleviten und die Religionsgemeinschaft ist weiterhin als privatrechtlicher Verein organisiert.

Kirchenrecht als kantonales Recht

Der Weg der öffentlich-rechlichten Anerkennung muss über die Kantone führen:  Die Schweizerische Bundesverfassung weist in Artikel 3 und Artikel 72 Absatz 1 ausdrücklich den Kantonen die Kompetenz zu, das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zu regeln. Diese föderale Regelung führte dazu, dass es in der Schweiz beinahe so viele Zuordnungen von Religionsgemeinschaften zum Staat gibt, wie Kantone existieren. In den meisten Schweizer Kantonen sind die römisch-katholischen, evangelisch-reformierten und christ-katholischen Kirchen als Landes- bzw. Kantonalkirchen und in sechs Kantonen (BS, ZH, BE, VD, SG und FR) zusätzlich jüdische Religionsgemeinschaften anerkannt. Dadurch erhalten die Religionsgemeinschaften Rechte wie das Recht auf Steuerbezug und den erleichterten Zugang zu öffentlichen Institutionen, darunter Gefängnisse, Spitäler und Schulen. Die Kantonsverfassungen von Basel-Stadt, Graubünden und Waadt sehen zudem vor, dass auch nicht-jüdische und nicht-christliche Gemeinschaften als religiöse Institutionen mit gesellschaftlicher Bedeutung anerkannt werden können, wobei sie weiterhin als privatrechtliche Vereine organisiert wären.

Symbolische Anerkennung durch Volksmehr

Weder Artikel 8 (Rechtsgleichheit) und Artikel 15 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) der Bundesverfassung noch Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) räumen nach geltender Rechtslage den Religionsgemeinschaften ein Recht auf eine öffentlich-rechtliche Anerkennung ein. Daher ist der Weg zur Anerkennung primär ein politischer und kein rechtlicher. Eine Anerkennung erfordert in den jeweiligen Kantonen eine Verfassungsänderung durch eine Volksabstimmung. Eine Anerkennung würde die Rechtsstellung der Religionsgemeinschaften verändern und hätte zugleich einen hohen ideellen und symbolischen Wert. Sie würde signalisieren, dass die Mehrheit der Stimmbürger*innen den Beitrag der muslimischen Gemeinschaften an die friedliche Koexistenz der Religionen anerkennt, schätzt und fördern möchte. Ferner ist es an der Zeit, das religionsrechtliche Verfassungsrecht an die pluralistische und multireligiöse gesellschaftliche Realität anzupassen. Denn der Islam ist in der Schweiz neben dem Christentum und dem Judentum schon lange zu einem selbstverständlichen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens geworden.