Von Nina Schneider – Ja, Noemi Schramm: Daten sind wichtig. Aber es reicht nicht, endlich auch die «vergessenen» Ärmsten dieser Welt zu erfassen. Um diese einzubeziehen braucht es nicht primär eine Flut neuer Daten mit internationaler Vergleichbarkeit, sondern Respekt und die Kunst, direkte Fragen zu stellen und zuzuhören.
„Measure, what you treasure“ – oft genug wird dieser Leitspruch ins Gegenteil verdreht. Gezählt wird, was messbar ist und sich in Kuchengrafiken darstellen lässt. Dies gilt auch in der Entwicklungszusammenarbeit.
Was Daten bringen und was nicht, haben gerade wir Frauen zur Genüge erfahren. Die systematische und umfassende Diskriminierung musste erst mit unzähligen Daten bewiesen werden, ehe sie den Weg auf die Agenda internationaler Verhandlungen fand. Erst die detaillierte Erfassung von unbezahlter Haus- und Pflegearbeit konnte belegen, dass neben Bildung und Gesundheit auch Zeit eine Ressource ist, die über gesellschaftlichen Ein- und Ausschluss entscheidet. Bloss: Die Erfassung der Geschlechterungleichbehandlung hat über die Jahre riesige Apparate und zahllose ExpertInnen hervorgebracht, ohne dass sich die Lage für einen Grossteil der Frauen grundlegend verbessert hätte. Viele der gewonnenen Erkenntnisse stellen die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend in Frage. Wahrscheinlich tauchen sie gerade deshalb eher in Analysen und Berichten auf, denn in jährlichen Gemeinde- oder Staatsbudgets.
Grobschlächtige Vereinfachung
Weltweit messen Regierungen ihre Entwicklung in Form von Wirtschaftsleistung und Mehrwert, also rein monetär. Keiner der vielen Versuche, Wohlstand umfassender zu betrachten, hat sich durchgesetzt, weder der Human Development Index noch der Bruttonationalglücksindex aus Bhutan. Eine neue Daten-Revolution tut also Not. Ob aber das High Level Panel (HLP), das die UNO in der inhaltlichen Gestaltung der Post-2015-Agenda unterstützt, mit ihrer Revolution tatsächlich qualitative Faktoren wie Umweltgerechtigkeit und Menschenrechte aufwerten will und kann, bleibt abzuwarten.
Erbsenzählen reicht nicht, um „Entwicklung“ zu messen.
Was eine Reform in Sachen Statistik leisten sollte, hat Noemi Schramm am Beispiel der Armutsbekämpfung ausführlich erläutert. Dass der Ruf nach vollständigen und stabileren Daten auch eine problematische Seite hat, schimmert in ihrem Text lediglich durch.
Natürlich können Ziele nur realisiert und eingefordert werden, wenn man sie auf klar definierte Unteretappen herunterbricht und festlegt, wer begünstigt werden soll. Aber aufgepasst, die Erfassung benachteiligter Gruppen alleine bürgt noch nicht dafür, dass deren Bedürfnisse und ihr Wissen auch tatsächlich in die Erhebungen einfliessen. Statistiken suchen nicht nach Diversität, im Gegenteil, oft steht die grobschlächtige Vereinfachung im Zentrum – im zweifelhaften Interesse einer weltweiten Vergleichbarkeit von an sich kaum vergleichbaren Daten. Kulturelle Unterschiede im Umgang mit Gesundheit, Bildung, Wasser oder Rechten zwischen Landlosen, SlumbewohnerInnen oder Urwaldvölkern komplizieren die Statistik und werden darum lieber ausgeblendet.
Datenneutralität gibt es nicht
Jede Erhebung ist interessensgeleitet. Ist dieses Interesse politischer Natur, fragt es nach Kosteneffizienz und Impact. Und die Folgen gleichen sich: Die Datenerfassung verlangt bürokratischen Aufwand auf Kosten von qualitativem Inhalt. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit leistet die Qualitätsmessung einer Bürokratisierung Vorschub, die einen erheblichen Budgetanteil verschluckt. Gleichzeitig verleitet der Erfolgsdruck MitarbeiterInnen auf allen Ebenen der Hierarchie dazu, die Erhebungen im Sinne der Auftraggeber zu schönen.
«Glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast», mahnen diejenigen, die sich der grundlegend ungleichen Machtverhältnisse in der Forschung bewusst sind. Dieser Generalverdacht ist keineswegs unbegründet. Wie die jüngste Studie der EvB zu den Medikamentenversuchen der Schweizer Pharmaindustrie zeigt, entscheiden die AuftraggeberInnen, welche Erkenntnisse «relevant» sind und veröffentlicht werden. Was nicht beliebt, fällt unter den Tisch. Die Menschen hinter den Zahlen erhalten keinen Zugriff zu «ihren» Daten und können sich nicht gegen falsche Darstellungen wehren. Im Klartext heisst das, wer eine Studie in Auftrag gibt hat Macht und sucht in erster Linie nach denjenigen Antworten, welche eine – meist gar nicht kommunizierte –These erhärten und nicht nach dem, was das Bild stört.
Selbst wenn wir den StatistikerInnen der Entwicklungszusammenarbeit beste Absichten zubilligen, ihre Datenreihen bleiben solange von beschränktem Wert als sie ohne aktive Beteiligung der Direktbetroffenen entworfen und erhoben werden. Zu häufig sehen auch EntwicklungsexpertInnen Menschen, die vom ökonomisierten Alltag ausgeschlossen sind, vor allem als Kosten- und Störfaktoren, oder gar als Sicherheitsrisiko. Deren Initiativen und Strukturen werden als potentiell ordnungsgefährdend gesehen, weil sie als informelle Tätigkeiten am Fiskus vorbei eigene Netzwerke bilden. Sie liegen im Dunkeln und werden als Beitrag an die Gesamtgesellschaft kaum honoriert.
Fazit
Natürlich kann man den Erfolg einer neuen Entwicklungsagenda nur erfassen, wenn man Fortschritte auch misst. Wir sind gespannt, auf welchen Messgrössen die Indikatoren beruhen werden. Natürlich ist der Zugang zu Geld, Wasser, Nahrung, Gesundheit und Bildung wichtig und auch messbar. Das entbindet uns aber nicht davon, Massnahmen zur Verwirklichung von qualitativen Zielen zu suchen, die nicht wie Erbsen zählbar sind. Beispiele sind die Verwirklichung von Gerechtigkeit, adäquaten und gesunden Wohn-, Lärm- und Luftverhältnissen, Zeit oder Glück. Es ist zu wünschen, dass sie mangels harten Daten nicht erneut aus dem Blickfeld der Wohlstandsmessung verschwinden.
Nina Schneider ist bei Alliance Sud verantwortlich für internationale Entwicklungspolitik.
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