Netzneutralität gewinnt zunehmend an politischer Relevanz. Worum geht es bei diesem Thema? Wie wird die Diskussion im Ausland geführt und wie reagiert die schweizerische Politlandschaft?
Für ein Land, welches den Begriff Neutralität zum politischen Grundvokabular zählt, führte der Begriff der Netzneutralität noch bis vor kurzem ein Schattendasein in der obskuren Welt von IT-Foren. Doch mit der steigenden Bedeutung des Internets und dem wachsenden Angebot an Dienstleistungen und Inhalten hat sich Netzneutralität auch hierzulande einen Platz auf der politischen Agenda erobert. Doch worum geht es dabei genau?
Die Angebote und Dienstleistungen, welche heute über das Internet konsumiert werden, vom Fernsehen über Telefonie bis zum simplen Download einer Datei, basieren auf dem Internetprotokoll (IP). Dieses sieht vor, dass die zu sendenden Daten in Pakete gestückelt werden und einzeln über das Netzwerk versandt werden. Die einzelnen Pakete können dabei unterschiedliche Routen nehmen, wichtig ist nur, dass sie am Zielort wieder in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt werden. Netzneutralität verlangtnun, dass die ausgetauschten Datenpakete gleichwertig behandelt werden. Gewissen Paketen darf also nicht Priorität gegeben werden beim Transport.
Des Pudels Kern
Weshalb stellt sich nun überhaupt das Problem der Gleichbehandlung, sprich der Netzneutralität? Sollte das nicht der Normalzustand sein? Doch, Netzneutralität gehört für viele Aktivisten und Forscher zu den Kerneigenschaften eines offenen Internets, welches wiederum Garant für wirtschaftliche Innovation ist. Aber im Wesentlichen haben zwei Faktoren dazu beigetragen, dass Netzneutralität heute nicht mehr selbstverständlich ist. Erstens wächst das Übertragungsvolumen stetig an. Wir konsumieren und produzieren immer mehr grössere Datenmengen, von hochaufgelösten Blockbustern bis zur Multiplayergamesession. Die nötige Infrastruktur, bspw. Glasfaserverkabelung, wächst aber nicht im gleichen Masse mit. Zweitens werden die Anbieter von Internetzugängen, sogenannte Internet Service Provider (ISPs) zunehmend auch zu sogenannten content provider. Anstatt nur die Infrastruktur für die Übermittlung von Drittinhalten zur Verfügung zu stellen, produzieren ISPs selber Inhalte für ihr Netz und sehen sich dabei durch Konkurrenten bedroht.
Der aktuellste Fall für diese Situation ist der Eintritt von Netflix und anderer Streamingdienste in den Schweizer Markt. Swisscom, einer der grössten ISPs des Landes bietet über Swisscom TV auch den Empfang von Fernsehserien an. Unter Netzneutralität sehe ich als Kunde aber sowohl Serien, welche ich über Swisscom TV empfange, als auch Serien, welche ich über Netflix streame, mit der gleichen Geschwindigkeit und folglich mit der gleichen Qualität. Ohne Netzneutralität könnte Swisscom die eigenen Dienste priorisieren und beispielsweise dafür sorgen, dass andere Angebote leicht ausgebremst werden. Dieses Szenario genügt um Aktivisten auf die Palme zu bringen und einen Frontalangriff auf ein Kernelement des Erfolgsmodells Internet zu wittern. Die ISPs und ihre Lobbyisten andererseits begründen die Aufhebung der Netzneutralität mit den steigenden Kosten für die benötigte Infrastruktur. Um die Bandbreitennachfrage zu stillen sind enorme Investitionen in die Netze fällig, welche die ISPs alleine stemmen müssen. Profiteure der schnelleren Netze sind aber die content provider wie Google mit Youtube, welche sich – globaler Firmenstruktur sei Dank – nicht an den lokal entstehenden Kosten beteiligen müssen. ISPs würden nun gerne diese content provider an den Kosten beteiligen indem sie gegen Bezahlung deren Websiten priorisieren. Dies wird von Internetaktivisten verständlicherweise als harter Eingriff in den Grundcharakter des Internets empfunden: die freie Meinungsäusserung. Schliesslich würde dies bedeuten, dass zahlkräftige Portale einfacher zu erreichen wären als der obskure Blog meines Nachbarn. Dies ist allerdings bereits heute der Fall, u.a. dank den Algorithmen von Suchmaschinen. Die ISPs wiederum wiegeln ab, man wolle ja nicht den Zugang total versperren, von Zensur könne also keine Rede sein. Somit haben beide Seiten des Disputs Argumente für ihre Position. Die Frage, welche sich die Politik stellen muss, ist folglich wie ein Kompromiss gefunden werden kann.
Proteste gegen Aufhebung der Netzneutralität vor dem Google-Hauptsitz im Jahr 2010 (Quelle: Creative Commons, Steve Rhodes, Lizenz)
Die Diskussion im Ausland: von komisch bis hysterisch
Ein Blick in die EU und die USA zeigt, dass die Diskussion um Netzneutralität ziemlich heftig geführt werden kann. So haben sich Amerikanische Internetgrosskonzerne mit einem offenen Brief und einer medienwirksamen „Slow-Down“-Kampagne stark gemacht für einen gesetzlichen Schutz der Netzneutralität. Netzbetreiber wie AT&T, welcher praktischerweise über gute Kontakte zur nationalen Regulierungsbehörde FCC verfügt, gaben Gegensteuer. Obwohl man von Seiten der Regulatoren beteuerte das Prinzip der Netzneutralität hochzuhalten, liess man gleichzeitig den ISPs ein Hintertürchen offen: durch sogenannte Spezialdienste dürfen sie Netzneutralität partiell aushebeln. Diese Taktik brachte dem FCC nicht nur den Ärger der Electronic Frontier Foundation und über einer Million Bürger sondern auch den Spott John Olivers ein.
Auf EU-Ebene wurde diesen Frühling beschlossen, dass Netzneutralität in den einzelnen Staaten gesetzlich festgeschrieben werden darf. Selbst wenn sich Mitgliedsstatten aber hierfür entscheiden, bleibt die de facto Abschaffung der Netzneutralität in den USA relevant: Erstens als Inspirationsquelle, d.h. die Hintertür der Spezialdienste kann auch für andere Gesetze übernommen werden; Zweitens durch die Tatsache, dass durch den grenzenlosen Charakter des Internets amerikanische Dienstleistungen auch von Europa aus genutzt werden können; und Drittens über Klauseln des geplanten transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP. Pläne der Deutschen Telekom Internetzugänge ab einem bestimmten Verbrauch vom Prinzip der Netzneutralität auszuschliessen führten zu vorhersehbaren Reaktionen: Es hagelte Negativschlagzeilen, Petitionen und politische Vorstösse. Dennoch ist Netzneutralität in Deutschland nicht explizit gesetzlich verankert, auf Stufe Verordnung sind die ISPs aber dazu aufgefordert das Prinzip zu beachten.
Der Stand der Dinge in der Schweiz
Gemäss dem BAKOM werden die Entwicklungen im Ausland „aufmerksam verfolgt“. Auf die politische Agenda kam das Thema Netzneutralität freilich erst in der Sommersession 2014. Behandelt wurde eine im letzten Herbst eingereichte Motion des Grünen Nationalrats Balthasar Glättli, welche die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität in der Schweiz verlangt hätte. Der Moment schien passend, denn diesen Herbst wird die Revision des Schweizer Fernmeldegesetzes verhandelt. Ausserdem wird Netzneutralität auch hierzulande nachweislich verletzt. Obwohl sich niemand finden lässt, der Netzneutralität als Prinzip in Frage stellt, steckt der Teufel im Detail. So wehrt sich die Telekombranche beispielsweise gegen Gesetze „auf Vorrat“ und plädiert stattdessen auf Selbstregulierung. Der Bundesrat, welcher die Motion erfolglos zur Ablehnung empfahl, hat nun den Auftrag Anliegen der Netzneutralität bei der Revision des Fernmeldegesetzes zu beachten. Ein erster Entwurf des neuen Gesetzes befand sich bereits in der Vernehmlassung und wurde eifrig kommentiert. Allerdings sind die politischen Signale zwiespältig, denn die Motion Glättli wurde am Ende der Session sistiert, da man auf einen Zwischenbericht des BAKOM wartet. Dieser sollte in Kürze erscheinen. Somit scheint der ideale Zeitpunkt gekommen sich mit dem Thema Netzneutralität zu befassen. Denn wie oft im Internet merken die Benutzer erst zu spät, wenn die Bedingungen zu ihren Ungunsten verändert werden. Rechtzeitiges Engagement ist bei Netzneutralität aber noch möglich und auch nötig!