Der amtierende Präsident der türkischen Republik, Recep Tayyip Erdoğan, wurde wiedergewählt. Er tritt sein Mandat neu ohne eine absolute Mehrheit im Parlament an, jedoch ausgestattet mit erweiterten Kompetenzen im Rahmen des neu eingeführten präsidialen Regierungssystems.
Am 24.6.2018 fanden in der Türkei vorgezogene Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Knapp 60 Mio. stimmberechtigte BürgerInnen konnten sich für einen der sechs Präsidentschaftskandidaten entscheiden. Für die Parlamentswahlen hatten sich vier (ideologisch sehr unterschiedliche) Oppositionsparteien ohne die pro-kurdische Oppositionspartei HDP zu einem Bündnis zusammengeschlossen und die konservative Regierungspartei AKP hatte sich mit der nationalistischen MHP vereint.
Die Wahlen können wie folgt zusammengefasst werden: 1) Recep Tayyip Erdoğan entging, bei einer Wahlbeteiligung von fast 90%, mit gut 52% der Stimmen einer zweiten Wahlrunde, in der viele die einzige Möglichkeit eines Regierungswechsels geortet hatten. Der seit 16 Jahren an der Macht stehende Erdoğan wird damit für weitere vier Jahre die Geschicke des Landes lenken. 2) Die AKP wird zwar knapp weniger als die Hälfte der Parlamentssitze stellen, jedoch vereint sie mit der verbündeten MHP 343 der 600 Sitze. Die HDP, deren Leader im Gefängnis sitzt, überwand die 10%-Hürde und ist damit ins Parlament eingezogen. 3) Die Befürchtungen betreffend Wahlmanipulationen könnten sich bewahrheitet haben: Es wurden Vorfälle wie Einschüchterungen, vorgestempelte Wahlzettel sowie die Abweisung von Wahlbeobachtern gemeldet. Ausserdem war bereits vorgängig das Wahlgesetz zugunsten einer stärkeren staatlichen Kontrolle abgeändert und das Medienmonopol grosszügig ausgenutzt worden. Die in die Türkei entsandte OSZE-Wahlbeobachtungsmission bestätigte ungleiche Bedingungen, unterstrich aber, dass die Wählerinnen und Wähler eine echte Wahl gehabt hätten. Von Scheinwahlen kann keine Rede sein. 4) Der im letztjährigen Referendum knapp angenommene Wechsel zum Präsidialsystem wird nun endgültig umgesetzt: Das Amt des Premierministers wird eliminiert, die Macht der Armee reduziert und die Kompetenzen des Präsidenten ausgeweitet. Damit hat Erdoğan seine Macht zementiert.
Wie soll die Antwort Europas darauf ausfallen? Während der ungarische Präsident Erdoğan bereits vor Veröffentlichung der offiziellen Resultate gratulierte, dürfte die Enttäuschung bei etlichen anderen europäischen Politikern gross sein. Das Lamentieren bringt aber nichts: Viel wichtiger ist es, bei allen Verhandlungen und Gesprächen mit der Türkei die Punkte Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einzubeziehen und die (von Erdoğan vor den Wahlen versprochene) Aufhebung des Ausnahmezustands zu fordern. Gleichzeitig bleibt das G20- und NATO-Mitglied geopolitisch ein wichtiges Land, welches über 3.5 Mio. syrische Flüchtlinge aufgenommen hat und der regionalen Instabilität trotzt. Instabilität in der Türkei hätte, insbesondere in der gegenwärtigen Situation der EU, fatale Konsequenzen für Europa.
Was die AKP an der Macht hält ist insbesondere der wirtschaftliche Aufschwung ihrer Wählerbasis, der konservativen Mittelschicht. Wirtschaftliche Probleme, die sich mit der steigenden Verschuldung und der Abwertung der Lira bereits abzeichnen, werden einen politischen Wechsel herbeiführen, nicht die Kritik aus Europa. In diesem Sinne sind Boykottaufrufe kontraproduktiv, denn sie beflügeln die Opfer-Rhetorik („die westliche Welt gegen uns“) der Regierung, welche geschickt Parallelen zur versuchten Auflösung des Osmanischen Reichs durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zieht. Eine Trotzhaltung, die bei vielen Türkinnen und Türken auf fruchtbaren Boden fällt.