Die Unionsbürgerrichtlinie ist der Rechtsakt, welcher die meisten der bisherigen Regelungen im Bereich der Personenfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union (EU) zusammenfasst. Die EU ist der Ansicht, die Schweiz müsse früher oder später die Richtlinie übernehmen, die Schweiz hält (noch) dagegen. Im vom Bundesrat präsentieren Verhandlungsergebnis des institutionellen Abkommens wurde die Unionsbürgerrichtlinie nicht erwähnt – jedoch auch nicht explizit ausgeschlossen, d.h. es ist davon auszugehen, dass es sich grundsätzlich um relevantes Recht für die Schweiz handelt. Worum geht es bei der Unionsbürgerrichtlinie, welche die Schweiz fürchtet als Folge des Rahmenabkommens, annehmen zu müssen? Was würde sich bei einer Annahme der Richtlinie ändern? Eine kurze Analyse.
Was regelt die Unionsbürgerrichtlinie?
Seit 2004 regelt die Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38/EG; UBRL) die Freizügigkeit und den Aufenthalt von BürgerInnen der Europäischen Union. Als Rechtsakt fasst die UBRL die meisten bis heute geltenden Regelungen im Bereich der Personenfreizügigkeit zusammen – und geht in gewissen Bereichen weiter als das bilateral mit der Schweiz ausgehandelte Freizügigkeitsabkommen (FZA) von 1999. Als das FZA ausgehandelt wurde, gab es beispielsweise noch keinen Gleichbehandlungsanspruch für Nichterwerbstätige – dieser besteht jedoch bei der UBRL. Worin genau liegt der Unterschied zwischen der EU Richtlinie und dem geltenden bilateralen Recht von 1999?
Wie unterscheidet sich die UBRL von der Personenfreizügigkeit?
Im Vergleich zu der bilateralen Regelung im Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU (FZA) ist die UBRL vor allem grosszügiger bei der Sozialhilfe, dem Aufenthaltsrecht und legt zudem die Hürden für Ausschaffungen höher. Genauer heisst das
- Die UBRL baut den Zugang zu Sozialhilfe für nichterwerbstätigen UnionsbürgerInnen und Personen deren Arbeitsverhältnis unfreiwillig beendet wurde aus. Nichterwerbstätige Personen können gemäss Praxis des EUGH zur UBRL nach drei Monaten Anspruch auf Sozialhilfe erheben, ohne dass die Inanspruchnahme automatisch zu einer Ausweisung führt. Sie darf jedoch nicht «unangemessen» sein, was jeweils eine Prüfung im Einzelfall bedeutet. Personen die unfreiwillig ihre Stelle innerhalb des ersten Aufenthaltsjahres verlieren, haben das Recht während 6 Monaten nach Verlust ihrer Arbeitsstelle Sozialhilfe zu beziehen. UnionsbürgerInnen deren Arbeitsstelle nach den ersten 12 Monaten beendet wurde haben ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht einschliesslich eines Anspruchs auf Sozialhilfe, wenn sie beim «Arbeitsamt eingeschrieben sind und sich aktiv um eine neue Stelle bemühen und begründete Aussicht haben, in absehbarer Zeit wieder eine Stelle zu finden.»
Basierend auf dem derzeit geltenden bilateralen Recht besteht für UnionsbürgerInnen bei unfreiwilligem Stellenverlust nach den ersten 12 Monaten während maximal sechs Monaten ein Anspruch auf Sozialhilfe. Nichterwerbstätige EU-BürgerInnen und UnionsbürgerInnen die in den ersten zwölf Monaten unfreiwillig ihre Stelle verlieren haben derzeit in der Schweiz keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Da im Zusammenhang mit der UBRL immer wieder von «Sozialtourismus» die Rede ist, ist es wichtig zu vermerken, dass auch in der UBRL das Freizügigkeitsrecht nichterwerbstätigen UnionsbürgerInnen an ausreichenden Existenzmitteln und eine umfassende Krankenversicherung gekoppelt ist – genauso wie in der Schweiz. - Um den sozialen Zusammenhalt zu stärken – eines der grundlegenden Ziele der Europäischen Union – soll jede/r UnionsbürgerIn und ihre Familienangehörigen gemäss der UBRL das Recht auf Daueraufenthalt erhalten, wenn sie / er sich fünf Jahre lang ununterbrochen in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat und keine Ausweisungsmassnahme angeordnet wurden. Dieses Recht steht dem/der UnionsbürgerIn grundsätzlich auch im Falle einer fortgesetzten Sozialhilfeabhängigkeit zu, ausser die Inanspruchnahme von Sozialhilfe ist unangemessen. Das FZA enthält keine Bestimmungen über die Niederlassungsbewilligung i.S. eines Dauerstatus. Die Niederlassungsbewilligung wird den BürgerInnen der EU-17 Staaten (mit Aussnahme von Zypern und Malta) und den EFTA- BürgerInnen aufgrund von Niederlassungsverträgen oder aus Gegenrechtsüberlegungen nach einem ordnungsgemässen ununterbrochenen fünfjährigen Aufenthalt gewährt, heisst es beim Migrationsamt. Für die verbleibenden EU-8 Staaten, sowie Zypern, Malta, Rumänien, Bulgarien und Kroatien, bestehen keine derartigen Vereinbarungen. Sie bekommen erst nach 10 Jahren ein Daueraufenthaltsrecht. Die Übernahme der UBRL würde die Zahl der Daueraufenthaltsbewilligungen.- bzw. Niederlassungsbewilligungen sehr wahrscheinlich erhöhen, da allen UnionsbürgerInnen gleichermassen ein Daueraufenthaltsrecht nach fünf Jahren gewährt werden müsste.
- Unter der UBRL ist es möglich UnionsbürgerInnen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit aus dem Aufnahmemitgliedstaat auszuweisen. Dabei gilt das Verhältnismässigkeitsprinzip, das Einzelfallbeurteilungen verlangt. Im Vergleich zum früheren EU-Recht hat die UBRL dies noch zusätzlich verdeutlicht und verschärft. Diese neuen Bestimmungen und die relevante Rechtsprechung des Gerichtshofs sind in gewisser Hinsicht restriktiver als die heutige Gesetzgebung in der Schweiz – vor allem nach der Umsetzung der Ausschaffunsinitiative, welche deutlich strengere Regeln für die Ausschaffung krimineller AusländerInnen vorsieht. Mit der Annahme der UBRL würde es der Schweiz in einzelnen Fällen wohl schwerer fallen UnionsbürgerInnen auszuschaffen, was in gewissen Massen in Konflikt mit der vom Volk angenommenen SVP-Initiative zur «Ausschaffung krimineller Ausländer» steht. Gefundenes Fressen für die europakritische grösste Schweizer Volkspartei – auch wenn in der Schweiz ebenfalls das Verhältnissmässigkeitsprinzip gilt.
Was würde sich bei einer Annahme der UBRL verändern?
Zusammengefasst, sind es also vor allem drei Themenfelder, die die UBRL grosszügiger handhabt als das Personenfreizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Diese drei Punkte (der vereinfachte Zugang zu den Sozialwerken, das frühere Daueraufenthalsrecht und die erschwerte Ausschaffung von UnionsbürgerInnen) wären bei einer Übernahme der UBRL durch die Schweiz politisch hart umstritten. Vorerst wurde die UBRL im dem vom Bundesrat präsentierten Verhandlungsergebnis weder erwähnt noch explizit ausgeschlossen. Da jedoch davon auszugehen ist, dass es sich grundsätzlich um relevantes Recht für die Schweiz handelt, wird eine politische Auseinandersetzung mit der UBRL wichtig sein.
Blogreihe Europa: Die Veröffentlichung des derzeitige Verhandlungsergebnis zum institutionellen Abkommen (InstA) ist ein wichtiges Ereignis in den Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Der Bundesrat hat am 7. Dezember 2018 beschlossen, vorerst auf eine Paraphierung des InstA zu verzichten, und den Abkommensentwurf in eine Konsultation zu schicken. Während sich Bundesbern diese Woche erneut mit dem Text befasst, präsentiert Foraus Ihnen eine analytische Blogreihe zu den umstrittensten Fragen rund um das InstA.
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