Inmitten des Wahlherbsts 2023 lancieren wir eine Serie von prägnanten Aussenpolitik-Briefings. In den 14 themenspezifischen Briefings reflektieren 23 Autor:innen die Vielfalt der aussenpolitischen Herausforderungen, die einerseits die Parlamentarier:innen die letzten vier Jahre beschäftigten und andererseits die politische Agenda in naher und mittlerer Zukunft bestimmen werden. Bis zu den nationalen Wahlen am 22. Oktober publizieren wir die Aussenpolitik-Briefings auch als Blogserie.
Executive Summary
– Die Region Nahost und Nordafrika (MENA) wird im Parlament nur am Rande behandelt, obwohl sie für die Schweizer Aussenpolitik relevante Möglichkeiten bietet und sie gleichzeitig vor Herausforderungen stellt.
– Hauptaufgabe für das neugewählte Parlament wird es sein, Gleichgewicht und Kohärenz zwischen der Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts einerseits und den wirtschaftlichen Opportunitäten und politischen Interessen andererseits zu gewährleisten.
– Das Parlament wird sich in der kommenden Legislaturperiode mit der Grundsatzfrage beschäftigen, wie eine Schweizer Interessenpolitik und Gute Dienste, die vermehrt auf nachhaltigen Frieden und die UNO-Agenda 2030 setzen, zu vereinbaren sind.
Rückblick
Die MENA-Region wird im Parlament mehrheitlich punktuell behandelt. So kam die Region beispielsweise auf die parlamentarische Agenda, als in der Öffentlichkeit besondere Ereignisse diskutiert wurden (Fussball WM in Katar (Interpellation 22.3258), die Proteste im Iran (Frage 22.7918) oder humanitäre Notlagen). In Debatten hingegen, die die Schweiz direkter betreffen, wie z. B. im Rahmen von Waffenexporten oder der Energieversorgung, erhielt die MENA-Region mehr Gewicht.
Während der letzten Legislaturperiode hat sich das Parlament mit der Positionierung der Schweiz zu verschiedenen Vorkommnissen in der Region befasst: Zum Beispiel im Fall der vereinfachten Aufnahmeverfahren von afghanischen Mädchen und Frauen nach der Regierungsübernahme durch die Taliban (Interpellation 23.3041). Die Frage der Repatriierung von Schweizer Bürger:innen, die im Zusammenhang mit ISIS in Syrien stehen, wurde zuletzt in der Sommersession 2023 aufgebracht und die Beantwortung steht noch aus (Frage 23.1037). Bezüglich der Protestbewegungen im Iran wurde mit einer Motion (22.4278) die Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz diskutiert, die vom Nationalrat unterstützt und vom Ständerat und dem Bundesrat abgelehnt wurde. Die Behandlung der mit Israel-Palästina im Zusammenhang stehenden Fragen polarisiert Parlamentarier:innen aufgrund der angespannten Situation vor Ort. Im Jahr 2021, als die Zivilbevölkerung durch die israelischen Luftangriffe während eines elftägigen Krieges schwer getroffen wurde (254 Tote), bewilligte das Parlament 3 Mio CHF Nothilfe im abgeriegelten Gazastreifen.
MENA-Staaten unterscheiden sich in ihren jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Kontexten sehr. Aus dieser Diversität leiten sich folglich auch die Interessen und Schwerpunkte der Parlamentsaktivitäten ab. Trotz Aktionsplan des Bundes und des im Januar 2023 eingeführten Gesetzes zur ESG-Berichterstattung sind Wirtschafts- und Menschenrechsthemen eine Herausforderung für parlamentarische Debatten, wie dies beispielsweise im Kontext des Kriegs im Jemen (an dem sich eine von Saudi-Arabien angeführte Koalition beteiligt) ersichtlich ist. Die durch die Motion 18.4138 im Jahr 2021 ausgelöste und heute noch anhaltende Debatte über Waffen- und Ersatzteillieferungen an Saudi-Arabien zeigen die Schwierigkeit auf, dass eine Balance zwischen schweizerischen Geschäftsinteressen und der Notwendigkeit, auf die immensen humanitären Bedürfnisse der betroffenen Bevölkerung reagieren zu können, schwierig zu finden ist.
Ausblick
Aus den drei Berührungspunkten der Schweiz mit den MENA-Ländern – humanitäre Tradition, wirtschaftliche Interessen und Gute Dienste – ergeben sich drei Dilemma, die sich in Zukunft zuspitzen werden.
Das erste Dilemma einer nachhaltigen Friedenspolitik vs. Waffenlieferungen & Sicherheitskooperationen mit Autokratien wird sich in der kommenden Legislaturperiode verstärken. Einerseits wurde der Verkauf von Schweizer Waffen in der Vergangenheit im Parlament diskutiert, insbesondere mit Bezug auf den Jemen (Motion 18.4138). Andererseits liegt seit 2022 eine Motion (22.3758) zur Erarbeitung einer friedenspolitischen Gesamtstrategie bereit. Prekäre Situationen, wie z.B. die aufflammenden Konflikte in Afghanistan und Sudan, könnten im Parlament jedoch auch während der nächsten Legislaturperiode aufgrund der Priorisierung des Ukrainekonflikts in den Hintergrund geraten. Der Bund beabsichtigt, 1,5 Mia CHF des IZA-Budgets 2025-2028 von insgesamt 11,45 Mia CHF für die Ukraine auszugeben. Im Vergleich dazu erhielt der Jemen, der eine der schwersten humanitären Krisen weltweit erlebt und wo zwei Drittel der Bevölkerung von humanitärer Hilfe abhängig sind, im Jahr 2023 14,5 Mio CHF.
Das zweite Dilemma besteht für die Schweiz darin, die Debatte um eine kohärente Schweizer Position in der MENA-Region zwischen den wirtschaftlichen und strategischen Interessen einerseits, und der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens sowie die Einhaltung der Menschenrechte andererseits, erfolgreich zu gestalten. Die Schweiz wird in den nächsten Jahren die Möglichkeit haben, ihren guten Ruf als beliebter Investitionsort trotz Credit Suisse-Übernahme (siehe Briefing “Place financière suisse”) in den Golfstaaten auszubauen. Solange die globale Versorgungsmangellage anhält, werden sich die europäischen Handelsbeziehungen mit rohstoffreichen Staaten vervielfachen und die Schweiz sich über ihre Nachbarländer auf die Ressourcen der MENA-Länder stützen müssen. Auch die Golfstaaten haben die notwendige Transition hin zu grüner Energie erkannt. Daraus ergeben sich entsprechende Cleantech-Opportunitäten für Schweizer Firmen.
Ein Blick auf die Zahlen zeigt die wirtschaftliche Relevanz der Golfländer (Freihandelsabkommen, Doppelbesteuerungsabkommen und Investitionsschutzabkommen mit der Schweiz in Kraft) und die damit verbundene Verantwortung der Schweiz: Die Vereinigten Arabischen Emirate waren 2022 wie bereits zuvor der 12. wichtigste Handelspartner weltweit. Seit 2022 ist der direkte Gegenvorschlag des Bundesrats zur abgelehnten Konzernverantwortungsinitiative (Geschäft 17.060) in Kraft, der die wirtschaftlichen Beziehungen mit den menschenrechtlichen Ansprüchen der Schweiz in Einklang bringen soll. Auch die EU hat das Potential eines solchen Gesetzes erkannt und mit dem Lieferkettengesetz eine schärfere Gesetzgebung als die Schweiz erlassen. Das Spannungsfeld rund um wirtschaftliche Verflechtungen (Frage 23.7312) und Einhaltung des Völkerrechts wird das Parlament auch in Zukunft beschäftigen.
Obwohl die Schweiz eine wichtige Akteurin in der globalen Mediation ist, haben in der MENA-Region in den letzten Jahren vermehrt Länder wie die Türkei, Saudi Arabien oder der Oman vermittelnde Rollen übernommen. Das Parlament wird dazu beitragen können, die zukünftige Position der Schweiz in diesem dritten und letzten Dilemma zu bestimmen: Wie kann die Schweiz ihre Interessenpolitik und die Guten Dienste beibehalten, und darüber hinaus vermehrt auf nachhaltigen Frieden nach der UNO-Agenda 2030 setzen?