Die Europäische Union hat sich im Frühjahr 2024 auf eine Reform des Schengen-Raums geeinigt. Der Reformprozess, der im Dezember 2021 im Schatten der Coronapandemie angestossen wurde, geht damit zu Ende. Ob das Problem anhaltender Grenzkontrollen an den Binnengrenzen Europas damit gelöst wird, ist fraglich.
Nach der Verabschiedung durch das Europäische Parlament hat auch der Rat der Europäischen Union am 24. Mai 2024 den Kommissionsvorschlag zur erneuten Überarbeitung des Schengener Grenzkodex angenommen. Der Grenzkodex definiert die Regeln für die Kontrolle der Aussengrenzen des Schengen-Raums, in dem die Mitgliedstaaten grundsätzlich auf Kontrollen an den Binnengrenzen verzichten. Die Rückkehr von quasi permanenten Grenzkontrollen seit der Flüchtlingskrise 2015 und der Coronapandemie 2020 hat dieses System jedoch zunehmend ausgehöhlt.
Die Krise als Dauerzustand
Der Schengen-Raum, zu dem auch Nicht-EU-Staaten wie die Schweiz gehören, ist das Erbe einer Reihe multilateraler Verträge, die seit den 1990er Jahren den Staatsangehörigen der Teilnehmerstaaten den ungehinderten Personenverkehr ohne Grenzkontrollen ermöglicht. Die Wiedereinführung von Kontrollen durch die Nationalstaaten ist durch den Schengener Grenzkodex nur in besonderen Bedrohungssituationen vorgesehen. In diesen Ausnahmefällen sollten die Massnahmen eine Maximaldauer von sechs Monaten haben.
Terroranschläge in Europa und die starke Zunahme der Flüchtlingszahlen ab 2015 haben jedoch dazu geführt, dass diverse Länder wieder Kontrollen an ihren Grenzen eingeführt haben, vor allem Frankreich, Deutschland und Österreich, aber auch die skandinavischen Länder. Das Beibehalten der Grenzkontrollen über die genehmigten Zeiträume hinaus hat aus der Ausnahme schnell eine neue Gewohnheit werden lassen. Die EU-Kommission sah dies zwar kritisch, tolerierte es jedoch. Die Grenzkontrollen, die 2020 von fast allen Teilnehmerstaaten zur Pandemiebekämpfung eingeführt wurden, haben diese Praxis weiter normalisiert und schürten vielerorts die Sorge vor dem endgültigen «Tod» des Schengen-Raums. Eine Reform war dringend nötig, besonders nachdem ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im April 2022 die permanenten Grenzkontrollen Österreichs für rechtswidrig erklärt hatte.
Was ändert sich?
Die Revision zielt im Kern darauf ab, den Mitgliedstaaten Alternativen zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen zur Verfügung zu stellen. Anstelle von stationären Kontrollen an den Grenzübergängen dürfen die Nationalstaaten bald mehr Polizeikontrollen in Grenzregionen oder an Bahnhöfen und Flughäfen durchführen, sofern diese stichprobenartig und nicht systematisch erfolgen. Darüber hinaus soll die Zusammenarbeit und der Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden verbessert werden. Dadurch soll unter anderem die Sekundärmigration von Drittstaatsangehörigen ohne Aufenthaltsrecht innerhalb des Schengen-Raums reduziert werden. Wenn Grenzkontrollen doch notwendig scheinen, sollen diese zukünftig besser auf europäischer Ebene koordiniert werden. Auf grenzübergreifende Gefahren für die öffentliche Gesundheit soll in Zukunft zum Beispiel durch Beschlüsse des Europäischen Rats reagiert werden. Zudem wird der Zeitraum, in dem Nationalstaaten unilateral Grenzkontrollen einführen können, auf zwei Jahre ausgeweitet. Im Gegenzug müssen die Massnahmen und deren Verlängerungen mit Blick auf mögliche Alternativen genauer begründet werden.
Eine Kompromisslösung in einem grösseren Kontext
Die Überarbeitung des Schengener Grenzkodex ist eine Kompromisslösung zwischen den gesteigerten Sicherheitsbedürfnissen der Nationalstaaten und der Leitidee des Schengen-Abkommens, einen Raum ohne Binnengrenzkontrollen zu schaffen. Dabei sind die Kommission und das Europäische Parlament eindeutig jenen Mitgliedstaaten entgegenkommen, die schon zuvor grosszügig von Grenzkontrollen Gebrauch gemacht haben und deren Praxis nun gewissermassen legalisiert wird. Ob die Revision dazu führen wird, dass die Nationalstaaten in Zukunft eher auf Grenzkontrollen verzichten werden, ist noch nicht abzusehen. Da Grenzkontrollen oft auch eine innenpolitische Komponente haben, kann man dies bezweifeln. Für den Erfolg spricht hingegen, dass die Kommission nun bemüht ist, durch jährliche Schengen-Berichte und weitere Kontrollinstrumente die Umsetzung des Grenzkodex durch die Nationalstaaten stärker im Auge zu behalten.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass die Überarbeitung des Schengener Grenzkodex in einem grösseren Kontext steht. Im Laufe der nächsten zwölf Monate sollen unter dem Stichwort «Smart Borders» zwei neue IT-Systeme, das Entry/Exit Systems (EES) und das European Travel Information and Authorisation System (ETIAS), in Betrieb genommen werden. Diese Systeme sind dazu gedacht, die Aufenthaltszeiten von Drittstaatsangehörigen innerhalb des Schengenraums automatisch zu erfassen und zu überwachen. Die Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, auf die sich die EU 2023 einigen konnte, wird ebenfalls eine wichtige Rolle für die Zukunft des Schengen-Raums spielen. Dessen Fortbestand scheint nun nicht mehr unmittelbar gefährdet. Es wird aber deutlich, dass die Gewährleistung des ungehinderten Personenverkehrs innerhalb Europas einen zunehmend höheren Preis hat, in Form nicht-physischer, digitaler Kontrollen sowie durch eine deutliche Verhärtung der Aussengrenzen.