Heimat, wozu, wo, wann, warum?

Peace & security

Eine Tafelrede von Nicola Forster, gehalten am 9. März 2015 an einer Veranstaltung des Theater Neumarkt im Restaurant Piazza in Zürich zum Thema „Heimat und Verbrechen“.

 

Recherche
Ich bereitete mich mit einer Youtube-Recherche zum Thema „Heimat“ auf den heutigen Abend vor. Die Jungen machen das heutzutage so. Es war ziemlich anstrengend: Sehr viele Kühe, grelles Alpenglühen, und eine Überdosis Schlager. Gepostet von pickligen Jungs mit Namen wie „Eidgenoss_forever“. Gerne möchte ich trotzdem die Ergebnisse meiner Recherche teilen, und mich gemeinsam mit Ihnen auf die Suche nach den Heimaten machen.

Der Ort der Heimat
Wenn man eine wichtige Frage zum Leben hat, konsultiert man jeweils am besten den Ostschweizer Troubadour Stahlberger. In einem siebenminütigen Youtubeclip, bestehend aus einem von nahe gefilmten Zugsitzpolster, meint er ironisch: „Am Schönschte isches immer no Dihei.“ Ja schon, nur wo ist „Dihei“? In meinem Fall schwer zu sagen; ich habe letztes Jahr in Brüssel, Berlin, Addis Abeba und am Zürcherischen Idaplatz gelebt und stürze mich nun in ein noch grösseres Abenteuer: Ich bin gerade nach Bern gezogen. Welches „Dihei“ also? Manchmal ist mein „Dihei“ einfach da, wo mein MacBook steht und als temporäres Tor zur Welt dient. „Unterwegs zuhause“, frei nach SBB. Wichtig ist für mich ein Ort, wo ich mein Glück suchen, mich entfalten und spannende Menschen treffen kann. Züri West singt „Irgendeinisch fingt s Glück eim“, aber man kann ihm ja geographisch schon mal ein Stück entgegen gehen und sich glücklich-machende Heimaten suchen.

Das Matterhorn: Ultimatives Heimatsymbol der Touristiker und Bergromantiker(Bild: via flickr)

Geworfenheit und Schweiz

So privilegiert wie wir Schweizer/-innen sind aber doch recht wenige. Der Philosoph Martin Heidegger – lange vor Youtube gestorben – beschreibt das russische Roulette unserer Herkunft mit dem Begriff der „Geworfenheit“: Wir werden irgendwohin geworfen, und haben damit – ganz ohne eigenes Zutun – Glück oder Pech gehabt. Stehen wir Schweizer also mit unserer Heimat auf der Sonnenseite? Materiell sicherlich ja. Aber sonst? Friedrich Dürrenmatt’s Bilanz ist in seiner berühmten Youtube-Rede etwas durchzogen, er beschreibt die Schweiz als „Gefängnis“. Max Frisch betitelt seine fast noch berühmtere Youtube-Rede zwar „Die Schweiz als Heimat“ – ist sich aber unsicher, ob er sie mit ihren vergangenen Verbrechen als Heimat akzeptieren soll. Das Unbehagen im Kleinstaat war und ist gross. Frisch wurde damals übrigens gerade der Schiller-Preis verliehen, was ihn zur Bemerkung hinriss, dass uns besagter Friedrich Schiller mit dem Import einer frei interpretierten skandinavischen Heldensage wohl einen Bärendienst erwiesen habe (gemeint ist Wilhelm Tell). Hält die Schweiz also zusammen, weil wir uns aus historisch zweifelhaften Mythen eine gemeinsame Identität und Heimat konstruiert haben?

Heimaten

Nein, wahrscheinlich werden wir absurderweise sogar von unserer Verschiedenheit zusammen gehalten, die für einen steten Ausgleich sorgt. Was wir heute Abend im Piazza alle gemein haben, ist weder Abstammung, noch Glaube, noch Sprache – sondern die Liebe fürs Theater, und fürs feine Essen. Genau so geht es bei Abstimmungen: Der katholische, französischsprachige Genfer stimmt je nach Thema und Interessen mal mit, mal gegen die muslimische, deutschsprachige Innerschweizerin oder den protestantischen und italienischsprachigen Tessiner (einig sind sich alle bloss darin, die Energie-Initiative der Grünliberalen abzulehnen). Jeder und jede trägt verschiedene Identitäten in sich und definiert sich nicht nur durch eine einzige Eigenschaft. Mit den meisten unserer Eigenschaften sind wir gesamtschweizerisch gesehen in der Minderheit, was für Verständnis für die Anliegen anderer sorgt und die direkte Demokratie als Staatsform so erst möglich macht. Unsere Heimat wird mit der Globalisierung immer vielfältiger. Es wäre deshalb auch ein wichtiges Gebot der Demokratie, alle Direktbetroffenen auch tatsächlich mitbestimmen zu lassen; das Ausländerstimmrecht würde die heutigen Realitäten in einer Schweiz mit einem Viertel ausländischen Mitbürgern berücksichtigen, insbesondere wenn die Schweiz weiterhin so knausrig mit ihrer Staatsbürgerschaft umgeht wie bisher.

In der modernen Schweiz haben heutzutage viele ein Heimats-Potpourri. Wenn Shaqiri für die Schweiz Tore schiesst und diese mit dem Handzeichen für den albanischen Adler feiert, sind beide Heimaten happy über den talentierten Sohn ihres Landes. Weshalb sollte er sich entscheiden müssen zwischen seinen Heimaten?

Chancenland

Schlussendlich muss zählen, wer heute eine konstruktive Rolle in unserem Land wahrnimmt, und nicht, wer sich aus dem Stolz auf seine Geworfenheit als „Eidgenoss/-in“ irgendwelche besonderen Rechte ableitet. Dies wäre falsch verstandener Heimat-Schutz, der zu einem Freilichtmuseum Schweiz führen würde, in dem Abstammung und Vergangenheit mehr zählen als mutiger Einsatz für die Schweiz von heute. Ich möchte eine Schweiz, die eine attraktive Heimat ist für tüchtige Hände und kluge Köpfe aus unserem Land und aus der ganzen Welt. Ein Hort für Rechtsstaat und Demokratie, ein kreativer Sehnsuchtsort für Menschen auf der Suche nach Kultur und Innovation. Ein Chancenland. Nach dieser Heimat habe ich Heimweh, wenn ich im Ausland bin. Und im Übrigen teile ich natürlich auch das Heimweh von Sänger Ritschie von Plüsch: Er hat Heimweh nach de Bärge, nach em Schoggi und em Wii („em Schoggi“? Vielleicht gehört zu unserer Heimat ja doch vor allem auch ein etwas abenteuerliches Sprachverständnis).