Mehr fördern weniger fordern: Europa agiert in der Ukraine unglücklich

Peace & security

In der Ukraine spiegelt sich der Interessenskonflikt zwischen Russland und dem Westen wieder. Dabei ist das Land weniger zweigeteilt, als uns viele glauben machen wollen. Es geht nicht um Ideologien, sondern um Ressourcen. Doch während Russland Gas bietet, stellt Europa Bedingungen.

 

Die Ukraine gilt als ein geteiltes Land, dessen eine Hälfte sehnsüchtig nach Europa blickt, während die andere Hälfte sich widerstandslos vom Kreml kaufen lässt. Diese Vorstellung der Ukraine als Land aus zwei unverträglichen Teilen passt gut zur russischen und zur europäischen Anspruchshaltung gegenüber der Ukraine: Westliche Aussenpolitiker fordern von der ukrainischen Führung, sie müsse sich zwischen Europa und Russland entscheiden. Russland mahnt im Gegenzug an die gemeinsamen Wurzeln und die nicht einfache, aber lange gemeinsame Geschichte. Doch die ukrainische Realität ist anders: In ihren Werten orientieren sich viele Menschen mal am Westen, mal an Moskau. Neben romantischen Nationalisten, die unter den Protestierenden überproportional vertreten sind, und neben Sowjetnostalgikern, gibt es in der Ukraine Millionen von Menschen, die nicht einfach aus dem Stehgreif sagen können, ob sie nun Russen oder Ukrainer sind oder sonst zu einer der vielen ethnischen Minderheiten gehören. Die meisten Ukrainer sprechen sowohl Russisch als auch Ukrainisch und nicht selten ein Gemisch aus beidem.

Doch ethnische Gegensätze haben weniger mit der ukrainischen Politik zu tun als einem jetzt Glauben gemacht wird: Die grossen Parteien in der Ukraine sind keine ideologischen Bewegungen. Viel eher sind sie Millionärsklubs, deren Machtbasis in unterschiedlichen Regionen und unterschiedlichen Wirtschaftszweigen liegt. Die regierende Partei der Regionen hat so gesehen einen sehr ehrlichen Namen gewählt. Sie ist die Partei der Lokalkönige. Diese haben im Osten und Süden des Landes die Schwerindustrie als Machtbasis. Heute sind aber mit den Oligarchen alle großen Parteien für freie Marktwirtschaft, Demokratie und einen EU-Beitritt, der auch weiterhin unrealistisch bleibt. Es sind aber Opportunisten und eben nicht Idealisten.

Die Partei der Regionen ist in der Kohle- und Stahlindustrie verwurzelt. Da diese grosse Mengen an Gas verschlingen, ist der Gaspreis zu einem wichtigen politischen Faktor geworden. Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, wie Russland mit einem für die Industrie vorteilhaften Gas-Deal die jahrelangen Bemühungen der EU-Diplomatie aushebeln konnte. Denn die Alternative zum russischen Gas-Deal waren lediglich Aussichten der EU auf eine zukünftige Zusammenarbeit – und nur falls die Ukraine eine ganze Reihe schmerzhafter Bedingungen erfüllen würde. Janukowitsch, der lange die EU-Integration predigte, hat sich schlussendlich für das handfestere Angebot entschieden. Seine Klientel dankte es ihm mit ihrem Support beim überstandenen Misstrauensvotum im Dezember.

Die Ukraine ist ein von der Landwirtschaft und Schwerindustrie geprägtes Land. Die Handelsbilanz mit der Schweiz fällt klar zum Nachteil der Ukraine aus. Exportiert werden vor allem unverarbeitete Produkte: Metalle, Edelsteine, Fasern, Samen und Fette. Diese wirtschaftliche Strategie konzentriert die wichtigsten Einkommensquellen, Bergwerke, Stahlhütten und Agrarholdings, in den Händen einiger weniger und fördert damit oligarchische Strukturen. Wer sich einen ehemaligen sowjetischen Produktionsbetrieb unter den Nagel reißen konnte, muss zudem heute kaum investieren und erreicht bei grossen Absatzmengen in den Westen dennoch beachtliche Gewinne. Deswegen werden auch kaum Arbeitsplätze geschaffen, und wenn, dann nur für gering qualifizierte und leicht austauschbare Arbeitskräfte. In bestem Wissen um die Korruption im eigenen Land investieren die Oligarchen ihren Gewinn lieber ausserhalb der Ukraine.

Die EU aber auch die Schweiz müssten dafür sorgen, dass auch verarbeitete Produkte aus der Ukraine auf den europäischen Markt gelangen. Das würde in der Ukraine Arbeitsplätze und Einkommen schaffen. Solche marktwirtschaftlichen Zugeständnisse aber bereits im Voraus an die Bedingung zu knüpfen, dass die Ukraine auf alle Zeiten ihrem Gaslieferanten abschwöre, ist unrealistisch und auf demokratischem Weg nicht durchsetzbar. Auch wäre es für die europäischen Länder an der Zeit, mit der Visafreiheit – die für uns in der Ukraine schon seit 2005 gilt – endlich nachzuziehen. Es ist heuchlerisch von der ukrainischen Bevölkerung europäische Werte zu fordern, wenn für die meisten Ukrainer eine Reise nach Europa durch bürokratische und finanzielle Hürden verunmöglicht wird. Eine Reise nach Russland ist bislang deutlich bequemer und billiger. Der Weg nach Osten wird somit immer näher sein als nach Westen. Europa muss bereit sein, der Ukraine etwas mehr zu bieten.