Wahlherbst im Schatten: So muss die europäische Asylpolitik reformiert werden

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Das starke Abschneiden der AfD bei den deutschen Bundestagswahlen und die massiven Stimmverluste für Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigen: Die Flüchtlingskrise von 2015 überschattet die Politik noch immer. Der Versuch, Geflüchtete gemäss eines Verteilungsschlüssels innerhalb Europas umzuverteilen, ist vor allem an den europäischen Mitgliedstaaten selbst gescheitert. Humanitäre Krisen an den europäischen Aussen- und Binnengrenzen sowie die Fehler des Dublin-Abkommens verlangen nach politischen Antworten im Umgang mit schutzsuchenden Menschen.

Unwillige Staaten, unwillige Geflüchtete

Autorinnen und Autoren des Think Tanks foraus haben im Dezember 2016 eine Studie präsentiert, in der sie anhand einer spieltheoretischen Analyse die Ursachen der aktuellen Krise der europäischen Asylpolitik ermitteln. Die europäischen Staaten besitzen wenig Anreize, Ankommende zu registrieren, da sie die Kosten und den politischen Preis für den Flüchtlingsschutz nicht übernehmen wollen. Die Menschen auf der Flucht wiederum wollen einen Asylantrag in jenem europäischen Land stellen, in dem sie sich die besten Zukunftsperspektiven erhoffen. Sie vermeiden deshalb oft die Registrierung im Ersteintrittsland und reisen meist irregulär durch Europa, um ihr Zielland zu erreichen. Folglich ist die europäische Asylpolitik mit einem Koordinationsdilemma konfrontiert: Obwohl Staaten ebenso wie Geflüchtete grundsätzlich ein Interesse an einer Registrierung und einem regulären Asylverfahren haben, führen die Regeln des Dublin Abkommens dazu, dass dieses Ziel von den beteiligten Akteuren selbst unterlaufen wird.

Vier-Punkte-Plan für eine Dublin-Reform

Deshalb plädieren die foraus-Autorinnen und Autoren für eine umfassende Reform des Dublin-Systems, die eine funktionierende europäische Asylkoordination ermöglicht und die divergierenden nationalstaatlichen Interessen auf einen gemeinsamen Nenner bringt. Der Reformvorschlag regt vier zentrale Neuerungen an:

 

1.     Die Registrierungspflicht wird von der Zuständigkeit für das Asylverfahren getrennt. Damit erhalten die Staaten den Anreiz, alle ankommenden Personen korrekt zu registrieren.

2.     Nach wie vor ist nur ein einziger Staat für das Asylgesuch zuständig. Geflüchtete sollen dieses jedoch in einem Dublin-Staat ihrer Wahl stellen können. Damit erhalten Geflüchtete den Anreiz, sich im Ersteintrittsland zu registrieren.

3.     Der finanzielle Aufwand für das Asylverfahren wird auf Basis eines europäischen Verteilschlüssels gemeinsam getragen.

4.     Eine temporäre Solidaritätsklausel ermöglicht es, die Aufnahme von neuen Geflüchteten auszusetzen, wenn ein Land kurzfristig an die Grenzen seiner Ressourcen und Infrastruktur stösst.

 

 

Dieser Reformvorschlag berücksichtigt die rationalen Strategien von Staaten und Geflüchteten und unterscheidet sich deshalb von den Ansätzen, die zwischen den Dublin-Staaten und im bisherigen Reformprozess der Europäischen Kommission diskutiert wurden. Darüber hinaus darf dieser Reformvorschlag auf politische Unterstützung hoffen, da sowohl periphere Ersteintrittsländer wie auch nordeuropäische Zielländer entlastet würden. Dies deshalb, weil der vorgeschlagene Finanzausgleich auf dem EU-Verteilschlüssel basiert, der wirtschaftliche genauso wie demographische Faktoren berücksichtigt. So wird den unterschiedlichen Voraussetzungen der einzelnen Länder sowie deren Fähigkeit, Geflüchtete aufzunehmen und zu integrieren, Rechnung getragen. Sobald ein Mitgliedsstaat bereits ein einziges Asylverfahren mehr durchführt, als gemäss Verteilschlüssel vorgesehen, bekommt der Mitgliedsstaat eine finanzielle Entschädigung.

 

Schweiz als Zielland wenig beliebt

Die heutige Verteilung von Geflüchteten auf die europäischen Länder ist weder gleichmässig noch entspricht sie den Dublin-Regeln: Die Peripherieländer übernehmen zwar einen Grossteil der Registrierungen, nehmen jedoch in Realität weniger Geflüchtete auf als nordeuropäische Länder. Der Grund dafür sind irreguläre Weiterreisen innerhalb Europas. Die Grenzen innerhalb Europas sind zwar eine weitere Hürde für Geflüchtete, aber oftmals kein Hindernis. Ein Mitspracherecht von Geflüchteten bei der Wahl des Ziellandes dürfte folglich zu keinen grossen Veränderungen in der Verteilung führen. Für die Wahl des Ziellandes sind Faktoren wie soziale Netzwerke, Sprachkenntnisse oder Informationen über das Zielland zentral. Gerade im Zuge der europäischen «Flüchtlingskrise» hat sich gezeigt, dass die Schweiz kein besonders populäres Zielland ist und für viele Geflüchtete lediglich ein Transitland darstellt. Das Mitspracherecht von Geflüchteten würde verhindern, dass Transit-Flüchtende im Schweizer Asylsystem enden. Durch den Einbezug der Präferenzen der Asylsuchenden, erhalten diese nicht nur den Anreiz sich im Ersteintrittsland zu registrieren, sondern auch mehr Autonomie und bessere Integrationsperspektiven. Ankunft und Weiterreise fänden geordnet und regulär statt.

 

Mit finanziellen Anreizen aus der Krise

Das von der EU kürzlich eröffnete juristische Verfahren gegen Polen, Tschechien und Ungarn zeugt davon, dass sich diese Länder gegen die Aufnahme von zugewiesenen Geflüchteten anhand einer Quote wehren und ihre Verantwortung lieber mit finanziellen Mitteln wahrnehmen würden. Der finanzielle Mechanismus kann umgekehrt sogar dazu führen, dass es für Länder attraktiv wird, Geflüchtete aufzunehmen. Die Solidaritätsklausel wiederum entlastet einen kurzzeitig überforderten Staat; die völkerrechtlichen Bestimmungen zum Schutze von Geflüchteten werden gleichwohl durch die anderen Mitgliedsstaaten wahrgenommen.

Das europäische Dublin-System steckt in einer Krise. Diese Krise bietet jedoch auch Chancen für eine nachhaltige Reform des europäischen Flüchtlingsschutzes. Länder mit verschiedensten Ausgangslagen haben Interesse an solch einer Reform. So auch die Schweiz – das Land, das vergleichsweise am meisten Dublin-Rückführungen vornimmt. Im Einklang mit ihren Werten und Verpflichtungen sollte sich die Schweiz aktiv in die Reformbemühungen einbringen, um zu helfen, die gegenwärtige Krise des europäischen Asylwesens zu überwinden.