Wird es eng in der Schweiz? – In euren Köpfen vielleicht

Migration

Von Stefan Schlegel – Seit die Personenfreizügigkeit mit Europa gilt, gehört es zum guten Ton, über die Enge in der Schweiz zu jammern. Das gefährdet nicht nur die Vorteile der Personenfreizügigkeit unnötig, es geht auch an den wahren Problemen vorbei.

Pünktlich zum Wahlkampf ist es Mode geworden, darüber zu lamentieren, wie eng die Schweiz geworden sei. Wachstumskritik gehört neu zu den Standardphrasen von Durchschnittspolitikern jeden Couleurs. Die Infrastruktur könne das Wachstum nicht mehr bewältigen, die Mieten und Bodenpreise würden unerträglich, die „Singapurisierung der Schweiz“ müsse aufgehalten werden denn die absolute Wachstumsgrenze sei erreicht.

Bizarre Zusammenhänge

Doch es geht in dieser modischen Diskussion nicht eigentlich um Wachstumskritik, sondern darum, einen Sündenbock aufzubauen. Für die gefühlte Enge im Zug, auf der Autobahn und bei der Suche nach Wohnungen ist nach der Darstellung der falschen Wachstumskritiker nicht die explodierende Mobilität der Alteingesessenen verantwortlich und ihre immer raumgreifenderen Vorstellungen einer angemessenen Behausung, sondern die Zuwanderung.

Es gibt Abstufungen in den Schuldzuweisungen. Für Bastien Girod (Grüne) sind die zuziehenden Unternehmen das Problem, Phillip Müller, der Chef-Zuwanderungs-Verhinderer der FDP hat den Familiennachzug von Asylsuchenden als neues Hauptübel identifiziert und die SVP bleibt Marktführerin bei der Dämonisierung der Personenfreizügigkeit. Gemeinsam ist den Sündenbock-Politikern die Entschlossenheit, Probleme, deren Lösungen langfristig, kompliziert und unpopulär sind, in eine Migrations-Debatte umzugiessen, die als politischer Gassenhauer hervorragend funktioniert. Wie weit sich dieses Spiel treiben lässt, ist erstaunlich. Als es der SVP nach der AKW-Katastrophe in Fukushima erst einmal die Sprache verschlagen hatte, meldete sie sich zurück in dem sie den bizarren Zusammenhang herstellte, für das AKW Mühleberg sei im Grunde die Zuwanderung verantwortlich.

Diese Sündenbockpolitik kann zu nichts Gutem führen. Denn erstens ist es in der Schweiz nicht eng und zweitens wäre die Ressourcenknappheit selbst dann, wenn sie tatsächlich akut wäre, nicht von der Zuwanderung zu verantworten.

Eine Sau muss sich drehen können

Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte war es in der Schweiz enger als heute. Im späten Mittelalter – auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebten knapp 800’000 Einwohner – waren nicht nur die zur Verfügung stehenden Lebensmittel sondern auch der zur Verfügung stehende Lebensraum pro Kopf sehr knapp. In der Stadt Zürich bestand die Vorschrift, eine Strasse müsse mindestens so breit sein, dass eine Sau sich umdrehen könne. Das war eng. Die Menschen, die zur Zeit der Gründung der alten Eidgenossenschaft auf dem Gebiet der heutigen Schweiz zu Hause waren hätten jeden ausgelacht, der ihnen erzählt hätte, die Bevölkerungszahl werde sich in 700 Jahren verzehnfachen: „Niemals. Das Wachstum hat eine absolute Grenze. Bei spätestens einer Million Menschen ist die Kapazitätsgrenze der Schweiz erreicht“, hätten sie entgegnet.

Alle in einem Bett

Im Jahr 1900, als in der Schweiz rund 3.3 Millionen Menschen lebten, hätten die Menschen wohl gesagt, die absolute Kapazitätsgrenze des Landes sei bereits überschritten, was ihnen niemand hätte verübeln können. Denn obwohl weniger als die Hälfte der heutigen Bevölkerung in der Schweiz lebte, war es unendlich viel enger. Die Wohnungen waren elend und dunkel, mit rauchigen Heizungen und ohne fliessendes Wasser. Oft bestanden sie aus einem einzigen Raum. Mehrere Familienmitglieder mussten in demselben Bett schlafen und dennoch war die Miete so hoch, dass sie fast das ganze Einkommen verschlang. Das war eng.

Bauland einzonen!

Die Mobilität der Schweizer/innen hat seit jener Zeit um den Faktor 62 zugenommen (durchschnittlich 17’400 Kilometer pro Kopf und Jahr gegenüber 280 Kilometer um 1900). Die Wohnfläche pro Person hat in den 17 Jahren von 1983 bis 2000 um 34 Prozent zugenommen. Das hat denselben Effekt, wie wenn die Bevölkerung in jener Zeit um einen Drittel gewachsen wäre.

Demgegenüber hat der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung im Vergleich zu 1910 (als ebenfalls weitgehende Personenfreizügigkeit mit den Nachbarstaaten herrschte) nur um etwa 9 Prozent zugenommen. Das zeigt: Im Vergleich zu den sehr stark steigenden Ansprüchen der bereits Anwesenden ist das Bevölkerungswachstum durch Zuwanderung ein vernachlässigbarer Faktor für die Belastung der Ressourcen im Land. Und: Entscheidend für die Ressourcen, die pro Person zur Verfügung stehen, ist nicht die absolute Zahl der Einwohner/innen, sondern die Effizienz, mit der die vorhandenen Ressourcen genutzt werden.

Vielleicht ist die Migration sogar ein Beitrag zur Lösung. Bis jetzt hat sie bereits erstaunliches bewirkt: Selbst die SVP und die FDP, deren aktiven Parteimitglieder zum überwiegenden Teil auf Gemeindeebene tätig sind und dort nur ein Ziel verfolgen (Bauland einzonen!), beginnen dank der Personenfreizügigkeit, sich für Raumplanung zu interessieren. Wenn es ihnen nun noch gelingt, das Stadium der Sündenbock-Politik hinter sich zu lassen und Massnahmen mitzutragen, die zur Verdichtung der Städte und zum Schutz unverbauter Landschaften beitragen, dann wäre das ein weiteres Beispiel dafür, was für erstaunlich positive Effekte Migration haben kann.

Die Herausforderungen der steigenden Ressourcenbelastung sind gross. Doch werden sie lösbar sein, wenn sie mit Lust an technischer Innovation angegangen werden statt mit der Kultivierung eines populären aber falschen Feindbildes.

Der limitierende Faktor für die Grösse der Schweiz ist nicht die Enge des Lebensraumes, sondern die Enge in den Köpfen.

Stefan Schlegel wohnt in Bern. Er ist Jurist und Gründungsmitglied von foraus – Forum Aussenpolitik. Er leitet die Arbeitsgruppe Migration und ist Mitglied der Redaktion des foraus-Blog.

Der foraus-Blog ist ein Forum, das sowohl den foraus-Mitgliedern als auch Gastautoren/innen zur Verfügung gestellt wird. Die hier veröffentlichten Beiträge sind persönliche Stellungsnahmen der Autoren/innen. Sie entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder des Vereins foraus.