Die Abstimmungen zum Brexit, zur Masseneinwanderungsinitiative und die Präsidentschaftswahlen in Österreich brachten äusserst knappe Ergebnisse zustande. Forderungen nach erneuten Urnengängen wurden laut. Doch Abstimmungen bis zum passenden Ergebnis zu wiederholen, ist der falsche Weg. Bei der vorhandenen gesellschaftlichen Spaltung sollte man besser darüber nachdenken, wie Entscheidungen mit solcher Tragweite von vornherein breiter abstützt werden können.
Eigentlich müsste es allen aufrechten Demokraten den Magen umdrehen: Eine Mehrheit von 51.9 Prozent der britischen Bürgerinnen und Bürger hat bei einer respektablen Stimmbeteiligung von 72.2 Prozent entschieden, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlassen soll. Und was machen die geschlagenen Anhänger des Remain-Lagers? Sie fordern mit einer Petition eine neue Abstimmung – und hoffen, dass diese das passende Ergebnis bringt.
Haben wir es mit schlechten Verlierern zu tun? Oder gar mit Leuten, welche sich einen Deut um direktdemokratische Gepflogenheiten scheren? Nun ganz so einfach scheint es nicht zu sein: Eine Woche nach der Brexit-Abstimmung haben vier Millionen Menschen die Petition unterschrieben, die bereits bei 100’000 Unterschriften vom britischen Parlament behandelt werden muss. Die deutlichen Mehrheiten für das Remain in London, in Schottland und bei der jungen Generation sollten ebenfalls zu denken geben. Und nicht zuletzt hat sich das Brexit-Lager die Tage nach der Abstimmung in atemberaubender Weise selbst demontiert.
Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl zurück, wenn eine einmal getroffene demokratische Entscheidung ungeschehen gemacht werden soll. Ein Penaltyschiessen nach einem hart umkämpften Spiel zweier Fussballnationen wird ja auch nicht wiederholt. Doch Forderungen nach einer erneuten Abstimmung wurden nicht nur beim Brexit (51.9%), sondern auch bei der Masseneinwanderungsinitiative (50.3%) und bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich (50.3%) laut. Allein die knappen Ergebnisse zeigen: Die europäischen Gesellschaften sind in der Frage von Integration oder Abschottung tief gespalten. Anstatt die Spaltung weiter zu zementieren, muss alles versucht werden, einen breiteren Konsens zu erreichen. Daher sollte die Frage lauten: Wie können Entscheidungen mit solcher Tragweite von vornherein breiter abgestützt werden?
Qualifizierte Mehrheiten
Alles muss man dafür nicht neu erfinden: Denn Formen von qualifizierten Mehrheiten gibt es schon lange. Für Verfassungsänderungen braucht es in vielen europäischen Ländern eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Und in der Schweiz kennt man schon lange das Ständemehr, welches die föderalistische Tradition des Landes verkörpert. Nur stellt sich in einer Zeit der zunehmenden Mobilität die Frage, ob die regionale Verankerung nicht auch durch einen Generationenkonsens ergänzt werden sollte. Vorstellbar wäre ein Modell, bei dem eine Vorlage in drei von fünf Generationen (beispielsweise in die Altersklassen 18-29, 30-41, 42-43, 44-65 und 66+ unterteilt) Mehrheiten finden muss. Nachdenken könnte man zudem auch über eine erforderliche Zustimmung der Mehrheit beider Geschlechter.
Gegen solche Modelle lässt sich freilich einwenden, dass man anstatt am System zu schrauben, lieber am gesellschaftlichen Klima an sich arbeiten soll. Doch das wird von Politikern, Medienschaffenden und Intellektuellen schon lange angemahnt – und blieb bisher weitgehend folgenlos. Und dass man systemische Anreize schafft, um die Menschen zur freiwilligen Entscheidung für ein bestimmtes Verhalten zu motivieren, ist wirklich nichts Neues: Man denke an Benzinsteuern, CO²-Abgaben und Tiefpreise für Bahntickets ausserhalb der Stosszeiten. Daher ist nichts dagegen einzuwenden, die Politik auf allen Ebenen dazu zu motivieren, mehrheitsfähige Vorlagen auszuarbeiten.
Letztlich gilt es noch die Frage zu klären, ob qualifizierte Mehrheiten gerade in der Europapolitik auch kontraproduktive Auswirkungen haben können. Wird es schwieriger sein, Vorlagen wie die Bilateralen Verträge in der Volksabstimmung durchzubringen? Mag sein. Aber es ist gerade nicht die Absicht, die Richtigen gewinnen zu lassen. Auch der Zittersieg des österreichischen Grünen Alexander Van der Bellen gegen den Rechtspopulisten Norbert Hofer stünde bei einem System der qualifizierten Mehrheit zur Disposition. Doch in jedem Fall ist es ein Fortschritt, wenn in der immer heterogeneren Gesellschaft die Entscheidungen von so vielen Segmenten wie möglich getragen werden. Zudem würden gerade diejenigen Politikerinnen und Politiker gestärkt werden, welche die Gesellschaft versöhnen statt spalten.