Der Königsweg und die Abrissbirne: Bilaterales Rahmenabkommen vs. Direkte Demokratie

Europe

Die Schweiz und die EU brauchen ein institutionelles Rahmenabkommen, sonst ist der bilaterale Weg bald eine bilaterale Sackgasse. Vielleicht ist er das sowieso. Denn die versprochene Rechtssicherheit des Rahmenabkommens kann schnell im Gegenteil münden.

 

Der bilaterale Weg stösst an seine Grenzen. Nichts zeigt dies eindrücklicher als das Dilemma um das institutionelle Rahmenabkommen: Denn so klar, dass ein solches für die Bilateralen unausweichlich ist, so klar ist auch, dass die damit verbundene Rechtsübernahme mit unserer heutigen Referendumsdemokratie auf Dauer nicht gut gehen kann.

Seit 2008 wünscht sich die EU ein institutionelles Rahmenabkommen, seit 2010 verlangt sie es. Ohne Rahmenabkommen keine weiteren Abkommen, heisst es aus Brüssel. Doch neue Abkommen wären für die Schweiz dringend nötig. Insbesondere in den Bereichen Energie und Finanzdienstleistungen hat die Schweiz ein grosses Interesse am Marktzugang. Ein institutionelles Rahmenabkommen würde die Überwachung und Auslegung der bilateralen Verträge, die Streitbeilegung und die Verpflichtung zur Rechtsübernahme betreffen. Souveränitätsverlust bei Rechtsübernahme, wird geschrien. Doch die Brisanz dieser wenig kreativen Kritik ist schnell entschärft: Erstens betreibt die Schweiz heute schon autonome Rechtsübernahme im grossen Stil und zweitens ist das auch gut so, um wohlstandsmindernde Rechtsunterschiede und Diskriminierung auf den beiden Märkten zu verhindern. Problematisch ist vielmehr die zu erwartende Rechtsunsicherheit.

50’000 Unterschriften für ein Halleluja

Ein Rahmenabkommen soll Rechtssicherheit und Stabilität im bilateralen Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU bringen, lautet der Konsens der Bilateralisten. Doch genau hier liegt der Hund begraben. Intuitiv scheint ein Rahmenabkommen mehr Sicherheit zu geben: Ein verlässlicher, rechtlicher Zustand, mit dem Personen und Unternehmen langfristig planen könnten. Ein Gericht entschiede abschliessend über Streitigkeiten und würde so jahrelange Auseinandersetzungen ohne Lösung verhindern. Die institutionalisierte Rechtsübernahme könnte, im Gegensatz zur wackligen autonomen Rechtsübernahme, den rechtsgleichen Raum ohne Diskriminierung tatsächlich garantieren. So weit, so gut die Intuition. Wäre da nicht die direkte Demokratie.

Die direkte Demokratie der Schweiz, insbesondere das fakultative Referendum, bildet den Stolperstein für Rechtssicherheit und Stabilität im bilateralen Verhältnis. Mit einer institutionalisierten dynamischen Rechtsübernahme verpflichtet sich die Schweiz, neue abkommensrelevante Verordnungen und Richtlinien der EU in den bilateralen Acquis zu übernehmen und umzusetzen. Neues EU-Recht wird in die Anhänge der betreffenden bilateralen Abkommen aufgenommen und so für die Schweiz zu bindendem Völkerrecht. Der Bundesrat darf völkerrechtliche Verträge von beschränkter Tragweite selbständig abschliessen und ändern. Die Rechtsübernahme in den Acquis ist jedoch meist nicht von beschränkter Tragweite, weil wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten sind oder zur Umsetzung ein Bundesgesetz nötig ist. Deswegen müssen zwingend das Parlament und allenfalls das Volk einbezogen werden. Gegen einen Bundesbeschluss des Parlaments zur Rechtsübernahme oder gegen ein Umsetzungsgesetz kann das fakultative Referendum ergriffen werden. Stimmt das Stimmvolk mit dem Referendum, kann die Schweiz ihren Verpflichtungen unter dem Rahmenabkommen nicht nachkommen. In diesem Fall greifen Sanktionen.

Bereits Art. 4 des Schengen-Abkommens enthält einen Sanktionsmechanismus für die Nichtübernahme von abkommensrelevantem EU-Recht. Dieser darf als Orientierung für ein Rahmenabkommen dienen. Eine Nichtübernahme würde nach einigem Hin und Her in der Suspendierung oder Kündigung des betroffenen Abkommens münden. Dieser Sanktionsmechanismus ist praktisch alternativlos. Innerhalb der EU gibt es zwar Bussen und Zwangsgelder bei fehlerhafter oder fehlender Umsetzung von EU-Recht. Die Busse bezahlt der Mitgliedstaat für sein Fehlverhalten, das Zwangsgeld solange bis er sich nicht mehr fehlbar verhält. Dieses System entspricht aber der Logik des europäischen Binnenmarktes – wo eine Kündigung von Rechten nur im aller äussersten Fall eine Option sein kann – und ist kaum im Verhältnis zu Drittstaaten anwendbar.

Mit dem Rahmenabkommen handeln wir uns also bei praktisch jeder Rechtsübernahme eine Art Guillotine ein: Jedes einzelne bilaterale Abkommen wäre – mit Blick auf allfällige Referenda – konstant gefährdet. Ein Zustand der Instabilität, den politische Kreise nur zu gut für sich zu nutzen wissen. Die erhoffte Rechtssicherheit würde arg geritzt. Das Rahmenabkommen mutiert zur Abrissbirne des Königswegs.

Wo ein Wille ist, ist auch ein (bilateraler) Weg?

Der bilaterale Weg stösst an seine Grenzen. Dieser Spruch ist kein Pathos, sondern eine pragmatische Feststellung. Das Rahmenabkommen in Kombination mit der Referendumsdemokratie und ihrer Instrumentalisierung für eine Politik der Abschottung lässt mit der heutigen europapolitischen Stimmung in der Schweiz mehr Rechtsunsicherheit befürchten, als Rechtssicherheit erhoffen.

Und dennoch: Ohne Rahmenabkommen ist der bilaterale Weg eine bilaterale Sackgasse. Uns stehen vier Optionen zur Auswahl:

(1) Wir machen nichts und bleiben in der bilateralen Sackgasse stecken. Wir können die Chancen einer weiteren Marktintegration nicht nutzen und verlieren langfristig den Anschluss in Europa.

(2) Wir schliessen das Rahmenabkommen ab und riskieren die Rechtsunsicherheit des bilateralen Wegs. Gleichzeitig schaffen wir aber die Kehrtwende, um das Schweizer Stimmvolk wieder langfristig vom Wert der Integration in Europa zu überzeugen.

(3) Wir schliessen das Rahmenabkommen ab und sichern den bilateralen Weg. Dazu ermächtigen wir den Bundesrat Änderungen an den bilateralen Abkommen selbständig vorzunehmen und stärken das Parlament, indem wir Umsetzungsgesetze vom fakultativen Referendum ausnehmen.

(4) Wir wählen eine europapolitische Option, bei der nicht konstant Guillotine und Abrissbirne droht, die direkte Demokratie deswegen etwas mehr Spielraum geniesst und man über die Rechtsentwicklung in der EU mitentscheiden kann.