Brasilien im Korruptionsschlamm: Resignation oder Revolution?

Politique de développement

Am 5. Oktober entscheiden 142 MillionenWahlberechtigte über Brasiliens nächste Präsidentin. Dass zwei Frauen um das Spitzenamt kämpfen, könnte man als fortschrittliches Zeichen für die junge Demokratie deuten. Doch der Schein trügt. Die seit den Protesten von Juni 2013 erwachte Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist nicht mehr weg zu reden.

 

Der plötzliche Unfalltod von Eduardo Campos und der kürzlich aufgedeckte Petrobras-Korruptionsskandal mischen den brasilianischen Wahlkampf auf. Bis vor Kurzem schien die Wiederwahl für Dilma Rousseff geritzt – keiner der zehn übrigen Kandidaten konnte ihr in Umfragen das Wasser reichen. Inzwischen haben sich jedoch die Umfragewerte der neuen Kandidatin und ehemaligen Umweltministerin Marina Silva eingependelt und sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen um das Präsidentschaftsamt vor. In Brasilien spielt diese Ausgangslage jedoch eine untergeordnete Rolle. Denn ob Mann oder Frau, die Wahl wird als Pflichtübung wahrgenommen, bei welcher zwischen dem kleineren Übel gewählt werden muss.

Die traditionellen PT-Wähler

Der Korruptionsskandal bringt Dilma Rousseff und ihre Partei Partido dos Trabalhadores (PT) in Erklärungsnot. Dessen ungeachtet schätzen die traditionellen PT-Wähler die sozialen Errungenschaften der PT-Regierung. Die eingeführten Sozialprogramme sowie zehn Jahre Aufschwung haben Millionen aus der Armut in die untere Mittelschicht gehoben. Die traditionellen PT-Wähler stimmen für Kontinuität, denn sie befürchten den Verlust der eingeführten Errungenschaften, sollte einer der übrigen Kandidaten die Wahlen gewinnen.

Die Anti-PT-Wähler

Die Anti-PT-Wähler wählen aus Protest das ehemalige PT-Mitglied Marina Silva oder den wirtschaftsnahen Aécio Neves. Nicht aus Überzeugung, ihr Hauptziel ist die Abwahl Dilma Rousseffs:

  • Aécio Neves steht für weniger Staat und mehr Wirtschaftsfreiheit, weniger Sozialausgaben und tiefere Strafmündigkeit. Massnahmen, welche die schwarze Bevölkerung hart treffen würden. Auch er bleibt nicht von Korruptionsvorwürfen verschont. Seine Rolle in diversen Korruptionsskandalen ist bis heute ungeklärt. Seit dem Eintritt Marina Silvas in den Wahlkampf verliert der ehemals zweitplatzierte laufend Wähleranteile.
  • Marina Silva wird von den Medien als dritter Weg zwischen Links und Rechts und Hoffnungsträgerin portiert. In ökologischen Fragen ist sie progressiv, wirtschaftsliberaler als Dilma Rousseff; gesellschaftspolitisch jedoch konservativ. Als Evangelikale und aus der Armut stammende Kautschuk-Zapferin eint sie die Sympathien vieler Brasilianer auf sich. Würde sie gewählt, wäre sie erst noch die erste schwarze Präsidentin Brasiliens. Doch selbst Marina Silva wird mit Korruption in Verbindung gebracht. Ihr Ehemann wird verdächtigt, in die Veruntreuung öffentlicher Gelder involviert zu sein. Auch hier ist der Prozess noch nicht abgeschlossen. Als ehemaliges PT-Mitglied wird ihr vorgeworfen, dieselbe Art der Regierungsführung zu verfolgen, weshalb sie für enttäuschte PT-Wähler nicht wählbar ist.

Dilma Rousseff. Wird sie die Wiederwahl gewinnen? (Quelle: Commons Wikimedia)

Die Unentschlossenen und Enttäuschten

Von den drei chancenreichsten Kandidaten verkörpert daher keiner den Fortschritt und die Abwendung von der bisherigen Politik. In der Bevölkerung ist daher zunehmend Resignation spürbar. Letzte Umfragen zeigen, dass 57% der Wahlberechtigten ohne die gesetzliche Wahlpflicht nicht zur Urne gehen würden. Doch selbst leer einzulegen ist keine Option; die leeren Stimmen werden dem Kandidaten mit den meisten Stimmen zugerechnet. Gerade die Mittelschicht nimmt es daher zunehmend in Kauf, auf die obligatorische Stimmabgabe zu verzichten.

Die Abwahl Dilma Rousseffs würde kaum das Ende der Korruption bedeuten, diese ist tief im politischen System verankert. Dafür wäre eine umfassende politische Reform notwendig. Beispiele für reformbedürftige Punkte sind

  • mehr Transparenz zur privaten Parteien- und Wahlkampffinanzierung; denn diese ist oft Ursache von Korruption.
  • eine Revision der Wahlpflicht; denn sie führt dazu, dass die Wahlberechtigten Kandidaten wählen, von welchen sie nicht überzeugt sind.
  • die Einführung geschlossener Listenwahlen für die Legislative zu prüfen, denn oft wechseln gewählte Parlamentarier während der Legislatur aus opportunistischen Gründen Partei und vertreten gegensätzliche Positionen.
  • eine Reform der brasilianischen Mediengesetzgebung. Nicht umsonst nennt Reporters without Borders Brasilien das Land der 30 Berlusconis. Die Medien werden stark von Politikern beeinflusst.

Die Reform ist Dreh- und Angelpunkt der gegenwärtigen Herausforderungen und spürbaren Resignation in der Bevölkerung. Die Forderung nach einer politischen Reform wird von den drei Kandidaten unterstützt. Ob sie nach ihrer Wahl die Revolution wagen werden, bleibt hingegen offen.