Inmitten des Wahlherbsts 2023 lancieren wir eine Serie von prägnanten Aussenpolitik-Briefings. In den 14 themenspezifischen Briefings reflektieren 23 Autor:innen die Vielfalt der aussenpolitischen Herausforderungen, die einerseits die Parlamentarier:innen die letzten vier Jahre beschäftigten und andererseits die politische Agenda in naher und mittlerer Zukunft bestimmen werden. Bis zu den nationalen Wahlen am 22. Oktober publizieren wir die Aussenpolitik-Briefings auch als Blogserie.
Executive Summary
– Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine rückt die Frage nach der Positionierung der Schweiz und ihrem Beitrag zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ins Zentrum
– Heiss diskutiert sind in diesem Zusammenhang die Intensivierung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation mit der NATO und der EU, eine mögliche Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes und die Schweizer Sanktionspolitik
– Innenpolitisch führt die verschlechterte Sicherheitslage in Europa zu einer strategischen Neuausrichtung der Verteidigungspolitik mit erhöhten Armeeausgaben
Rückblick
Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zerstörte die lange sicher geglaubte europäische Sicherheitsarchitektur. Die rasche wirtschaftliche und militärische Unterstützung westlicher Staaten zugunsten der Ukraine und die öffentliche Empörung setzten den Bundesrat unter Zugzwang. Während er entschied, die EU-Sanktionen gegen Russland zu übernehmen, lehnte er die Weitergabe von Schweizer Kriegsmaterial an die Ukraine durch Drittstaaten, mit Verweis auf das Kriegsmaterialgesetz], ab. In einem Postulatsbericht erklärte der Bundesrat, diese Vorgehensweise sei mit der Neutralitätspraxis vereinbar. Auf Parlamentsebene wurde die Schaffung einer Taskforce zur Sperrung von russischen Oligarchengelder durch den Ständerat abgelehnt (22.3883). Zudem gab es mehrere Vorschläge – aber noch keine Entscheidung – zur Änderung des Kriegsmaterialgesetzes wie etwa die Parlamentarischen Initiativen der Sicherheitspolitischen Kommissionen des Ständerates (23.402) und des Nationalrates (23.403).
Die Schweizer Neutralität wird durch Solidarität in Form humanitärer Tradition und Guten Diensten ergänzt. Gemäss einer Studie des IfW Kiel rangierte die Schweiz ein Jahr nach Kriegsausbruch nur an zehnter Stelle der bilateralen Geldgeber für humanitäre Hilfe für die Ukraine – das ebenfalls neutrale Österreich belegte den ersten Platz. Ein Schwerpunkt liegt auf der humanitären Minenräumung, die gemäss dem Aktionsplan des EDA und VBS in der Ukraine in den nächsten Jahren ausgebaut werden soll. Ein mit der Ukraine verhandeltes Schweizer Schutzmachtmandat wurde von Russland aus politischen Gründen abgelehnt.
Die verschlechterte Sicherheitslage liess in der Bevölkerung die Unterstützung für die Armee ansteigen. Auch im Parlament führte sie zu einem sicherheitspolitischen Umdenken und verhalf den bürgerlichen Parteien, eine Erhöhung der Armeegelder durchzusetzen. So nahmen die eidgenössischen Räte im Frühjahr 2022 die gleichlautenden Motionen 22.3367 und 22.3374 über die schrittweise Erhöhung der Armeeausgaben an. Diese sollen spätestens bis 2030 mindestens 1% des BIP betragen. Die Armeebotschaft 2023 des Bundesrates sieht zur Einhaltung der Schuldenbremse ein langsameres Ausgabenwachstum als das Parlament vor. Der Zahlungsrahmen der Armee soll für die Jahre 2021–24 von 21,1 Mia. auf 21,7 Mia. CHF erhöht werden. Zudem sollen mit einem Verpflichtungskredit von 1,9 Mia. CHF die Fähigkeiten der neuen bodengestützten Luftverteidigung Patriot erweitert sowie weitere Radschützenpanzer und Munition für die Bodentruppen beschafft werden. Bereits im September 2022 hatte der Bundesrat den Kauf von 36 Kampfflugzeugen des Typs F-35A beschlossen. Das Stimmvolk hatte sich noch vor dem Krieg in der Ukraine mit einer knappen Mehrheit von 50.1% für den Kauf neuer Kampfjets ausgesprochen.
Ausblick
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine liess der Bundesrat den Sicherheitspolitischen Bericht der Schweiz durch einen Zusatzbericht ergänzen. Im Hinblick auf die internationale Zusammenarbeit stellte dieser fest, dass die Kooperation der Schweiz mit der NATO im Rahmen des Programms Partnerschaft für den Frieden (PfP) bereits gut etabliert sei und ohne Einschränkung der Neutralität weiter ausgebaut werden könne. Eine Annäherung an die NATO – nicht aber ein Beitritt – wird derzeit auch von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung befürwortet. Ein CSS-Briefing identifiziert vier Schwerpunkte zur Weiterentwicklung der Partnerschaft mit der NATO (und in kleinerem Umfang mit der EU), unter anderem zur Erhöhung der Verteidigungsfähigkeit der Schweiz. Die im Juli 2023 unterschriebene Absichtserklärung zur Teilnahme an der European Sky Shield Initiative (ESSI), ein von Deutschland initiiertes Projekt zum Aufbau eines integrierten europäischen Luftverteidigungssystem mit aktuell 19 Teilnehmerstaaten, kann als Schritt in diese Richtung gelesen werden.
Obwohl die Schweiz die EU-Sanktionen grösstenteils übernommen hat, sieht sie sich in mehreren Punkten internationaler Kritik ausgesetzt. Im April 2023 forderten die Botschafter:innen der G7-Staaten die Schweiz auf, verdächtige Finanzstrukturen aktiv zu untersuchen und die Suche nach verdächtigen russischen Vermögenswerten und Akteur:innen zu intensivieren. Auf internationaler Ebene loten sowohl die Freeze and Seize Task Force der EU als auch die von den USA angeführte REPO Task Force die Möglichkeiten einer Konfiskation gesperrter russischer Vermögenswerte für den Wiederaufbau der Ukraine aus. Die notwendigen Rechtsgrundlagen müssen zwar noch geschaffen werden, doch der entsprechende politische Wille ist vorhanden. Demgegenüber ist eine Arbeitsgruppe des Bundes zum Schluss gelangt, dass die Konfiskation gesperrter russischer Vermögenswerte gegen die Bundesverfassung und die geltende Rechtsordnung verstossen würde. Auch die Nutzbarmachung der in der Schweiz gehaltenen Reserven und Vermögenswerte der russischen Zentralbank in der Höhe von 7,5 Mia. CHF steht zur Debatte. Die EU-Kommission ihrerseits hat bereits Varianten ausgearbeitet, wie Zentralbankreserven an den Finanzmärkten investiert und die Profite abgeschöpft werden könnten. Der Druck auf die Schweiz dürfte weiter zunehmen, sich im Rahmen der beiden Taskforces proaktiv am Informationsaustausch zu beteiligen und verdächtige Finanzstrukturen und Spuren aktiv zu verfolgen. Eine entsprechende Motion (22.3451) dazu ist hängig. Ebenso dürften die internationalen Entwicklungen im Umgang mit russischen Vermögenswerten die Schweiz unter Zugzwang setzen, mit der Schaffung entsprechender Rechtsgrundlagen vergleichbare Schritte einzuleiten.
Die Debatte um die Positionierung der Schweiz wird auch künftig durch die sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit, die Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes, die Sanktionspolitik sowie das Ausmass der friedenspolitischen Beiträge dominiert werden. Dabei stehen bereits vollzogene Schritte hin zu einer verstärkten Kooperation einer passiven Auffassung von Neutralität gegenüber.