Auf eine freundliche Nachbarschaft: Frank-Walter Steinmeier zu Gast in der Schweiz

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Der zweitägige Staatsbesuch des deutschen Bundespräsidenten und ehemaligen Aussenministers Frank-Walter Steinmeier in der Schweiz diente der Pflege sehr enger diplomatischer Beziehungen, der Demokratieförderung und der Ehrung Thomas Manns. 

In Kilchberg liegt der Schriftsteller und Vordenker eines europäischen Deutschlands Thomas Mann begraben, dessen Schweizer Ruhestätte von den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und Alain Berset am Donnerstag besucht wurde. Steinmeier verkündete auch, demnächst ein Thomas-Mann-Haus in Los Angeles als Zeichen für den transatlantischen Dialog zu eröffnen und spielte damit auf die angespannten Beziehungen zu den USA in Zeiten von Dieselgate und nicht auszuschliessenden Strafzöllen an. Als Aussenminister hat er in der Vergangenheit die deutsche Dialogkultur massgeblich mitgestaltet und in vielen internationalen Krisen unter Beweis stellen können. Sein Gastgeber Alain Berset bekräftigte, stets in gutem Kontakt zu Deutschland zu stehen, was erlaubt, immer wieder gute Lösungen zu finden. In diesem Interview sprechen foraus-Mitglied Simon Reber und Polis Blog-Redakteurin Anne-Kathrin Glück aus schweizer und deutscher Sicht über die wichtigsten Themen des Zusammentreffens, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Länder und über unser Demokratieverständnis.

Anne-Kathrin: Frank-Walter Steinmeier sagte auf der Medienkonferenz«enger könnte die Zusammenarbeit zwischen zwei Staaten kaum sein» und betonte, dass beide Länder «mehr als nur gute Nachbarn» seien. In der Schweiz leben über315.000 Deutsche, die laut Steinmeier nicht dieselben, aber den SchweizerInnen sehr nah sind. Was denkst du, wie wichtig ist der Schweizer Bevölkerung das gute Verhältnis zu den Deutschen im Land, sowie zwischen der Schweiz und Deutschland als bilaterale Partner?

Simon: 315.000 Deutsche in der Schweiz. Im ersten Moment hört sich das nach viel an. Doch leben umgekehrt auch 88.600 Personen mit Schweizer Pass in Deutschland. Gemessen an der jeweiligen eigenen Bevölkerung ist der Anteil der SchweizerInnen in Deutschland mit über einem Prozent also doppelt so hoch wie der Anteil der Deutschen in der Schweiz. Klar, die Schweiz ist viel kleiner und die Deutschen konzentrieren sich v.a. auf die deutschsprachigen Schweizer Kantone. Doch bin ich überzeugt, dass den SchweizerInnen das Verhältnis zu den Deutschen im Land trotz vereinzelter negativer Stimmen sehr am Herzen liegt. Ich kann mir jedoch auch gut vorstellen, dass einige Deutsche die kulturellen Besonderheiten der Schweiz unterschätzen. Diese wurden mir auch erst richtig bewusst, als ich in meiner Zeit in Deutschland mit der teilweise etwas schroffen Berliner Art konfrontiert war.

Als bilateraler Partner ist Deutschland für die Schweiz meiner Meinung nach klar in den Top fünf, mit den beiden anderen großen Nachbarländern Frankreich und Italien sowie Grossbritannien und den USA. Dies zeigt sich schon am Umfang unseres Botschaftspersonals vor Ort in Berlin. Steinmeier hat absolut recht, wenn er von gemeinsamen Werten spricht. So kann Deutschland für die Schweiz auch ein Türöffner und wichtiger Verbündeter in weltpolitischen Angelegenheiten sein.

AK: Was sind die gemeinsamen Interessen beider Länder und wo unterscheiden sie sich?

Simon: Die grossen Ziele und Grundprinzipien der Aussenpolitik der Schweiz und Deutschlands sind sehr ähnlich. Beide wollen sich in der Welt für Menschenrechte sowie Frieden und Sicherheit engagieren, und die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten. Dazu engagieren sich beide Länder stark und oft als Verbündete in multilateralen Formen.

Der Hauptunterschied liegt ironischerweise ganz klar bei der Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Während sich Deutschland zur europäischen Integration bekennt und diese immer weiter vertiefen will, setzt sich die Schweiz für die Wahrung ihrer Unabhängigkeit ein. Da sie jedoch aufgrund ihrer Grösse nicht auf Machtpolitik setzen kann, ist ihr sehr an geregelten internationalen Beziehungen gelegen.

Des Weiteren fällt auf, dass die Schweiz klarer als Deutschland betont, dass Aussenpolitik nicht «l’art pour l’art» ist, sondern dass es durchaus um eigene Interessen geht. Wie ich finde, würde Deutschland ein bisschen mehr Selbstbewusstsein im internationalen Kontext nicht schaden (auch wenn es zu Hause nicht populär sein mag). Was meinst du?

AK: Ich erinnere mich gut daran, wie Frank-Walter Steinmeier als Aussenminister oft von der neuen Verantwortung Deutschlands sprach, in globalen Angelegenheiten mehr als nur Beobachter zu sein. Und ich stimme ihm zu, dass Deutschland mit diplomatischem Geschick die Weltbühne in kurzer Zeit erobern konnte. Darum sehe ich die deutsche Verantwortung darin, diese Werte weiter voranzutreiben und sich für Friedensprozesse, Aufbauhilfe, Menschenrechte, Krisenprävention und einer nachhaltigen Handelspolitik einzusetzen, folglich weniger für Militärpräsenz und Konfrontationspolemik.

Auf EU-Ebene vertritt Deutschland natürlich auch eindeutig deutsche Interessen und eins scheint es zu sein, das institutionelle Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz noch in diesem Jahr abzuschliessen. In der Schweiz gibt es diesbezüglich viele Kritiker, die unter anderem die eigene Souveränität gegenüber einem ausgedehnten EU-Recht in Gefahr sehen. Wie schätzt du die Entwicklungen in den Verhandlungen ein?

Simon: Noch mehr als Bundespräsident Steinmeier hoffen viele SchweizerInnen, dass es mit dem Rahmenabkommen endlich vorwärts geht. Das Problem liegt darin, dass die statischen bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU angesichts des sich stets dynamisch entwickelnden Acquis der Gemeinschaft langfristig keine Lösung sind. Im Prinzip hat die Schweiz eine Güterabwägung vorzunehmen und zu entscheiden: Übernehmen wir Entwicklungen des Acquis ohne mitzuentscheiden (sondern im besten Fall mitreden, also decision shaping betreiben zu können) oder wollen wir als Mitglied in der EU mitentscheiden, jedoch nochmals zusätzlich so viele Gesetze wie heute von der EU übernehmen?

Die dritte Variante (der Alleingang) kann aus wirtschaftlichen Gründen niemand ernsthaft verfolgen. Die Frage der Souveränität hat meiner Meinung nach viel damit zu tun, welchem Entscheidungsraum man sich als Bürger zugehörig fühlt. Die Bewohner des Kanton Zürich kritisieren auch nicht, dass die meisten Entscheide zum Militär auf Bundesebene gefällt werden. Umgekehrt würde es der EU gut tun, die Souveränitätsrechte und den Föderalismus weiterhin hochzuhalten. Gerade hier könnte sie viel von der Schweiz lernen.

AK: Im Streit um mögliche Strafzölle auf Stahl und Aluminium konnten sich EU- und US-Diplomaten auf eine temporäre Aussetzung einigen, die jedoch demnächstausläuft. Wie wird die strenge Handelspolitik Trumps in der Schweiz diskutiert?

Simon: Die Schweiz ist diesbezüglich offiziell eher zurückhaltend und will es sich mit Trump nicht verscherzen. Daneben ist interessant, dass sie irgendwie auch von der Sistierung des TTIP-Abkommens profitiert hat, da es sie enorm unter Zugzwang gesetzt hätte. Würden die Schweizer Bauern nicht so stark auf die Bremse treten, wäre ein umfassendes Handelsabkommen zwischen der Schweiz und den USA nämlich längst unter Dach und Fach. 

AK: FW Steinmeier betonte, dass Deutschland und die Schweiz in Bezug auf den Friedensprozess in der Ukraine Seite and Seite stehen. Aus Sicht der Schweizer: Wie wichtig sind gleichfalls gute Beziehungen zu Russland?

Simon: International positioniert sich die Schweiz gerne und gut als Vermittlerin. Aufgrund ihrer Neutralitätspolitik kann sie das auch glaubhaft tun. Gleichwohl ist klar und das war es auch zu Zeiten des Kalten Krieges, dass die Schweiz zur «westlichen Hemisphäre» zählt. AK: Das Thema Klimawandel stand ebenfalls auf der Agenda. Spätestens seit Fukushima nimmt Deutschland die Energiewende ernster als jemals zuvor und gilt als starker Verfechter des Pariser Klimaabkommens. Wie schnell geht die Entwicklung hin zu einer nachhaltigen Energieversorgung in der Schweiz voran?

Simon: Deutschland nimmt hier im Vergleich zur Schweiz eher eine Vorreiterrolle ein. Die parlamentarischen Beratungen zu diversen Gesetzen der Energiewende sind bei uns noch im Gang, wobei das Parlament gegenüber unserer Regierung in der aktuellen Legislatur als Bremser auftritt. Positiv für die Schweiz ist der hohe Anteil der Wasserkraft am Strommix. Auch was den Stromhandel anbelangt, wäre ein Abkommen mit der EU von Vorteil. Leider ist dieses im Kontext der Klärung der institutionellen Fragen noch blockiert.

AK: In seiner Rede zu Beginn der Podiumsdiskussion Kann die Demokratie im 21. Jahrhundert bestehen?, die von foraus-Präsident Nicola Forster moderiert wurde, sagte Steinmeier: «Wir stecken mitten in Bewährungsjahren der Demokratie». Stimmst du dem zu oder haben liberale Demokratien die heftige Populismus-Welle in Europa vorerst überstanden?

Simon: Ich stimme dem zu, bin aber optimistisch. Zustimmung deshalb, da gesellschaftliche Diskussionen sich oft verzetteln und nicht genügend gruppenübergreifend stattfinden. Zudem schwindet das Vertrauen gegenüber politischen EntscheidungsträgerInnen in der Schweiz wie in Deutschland. Optimistisch bin ich, da man immer wieder sieht, dass Bürger aufmucken, wenn es ihnen zu bunt wird. Letzte Beispiele sind Armenien und Nicaragua.

AK: Wenn es um die Zukunft der Demokratie beziehungsweise die Demokratie der Zukunft geht, vertreten Deutschland und die Schweiz zuweilen sehr verschiedene Standpunkte. Was wie die direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert, kann die historische parlamentarische Demokratie in Deutschland nicht ersetzen. Steinmeier sprach sich während seines Besuchs gegen Volksabstimmungen auf Bundesebene aus. Trotzdem entwickeln sich im digitalen Zeitalter immer mehr Ansprüche und Ideen rund um moderne politische Beteiligungsformen. Welche zukunftsorientierten Schnittpunkte gibt es in dieser Debatte und an welcher Stelle kann der eine Partner vom anderen lernen?

Simon: Ich bin ein absoluter Befürworter der direkten Demokratie in der Schweiz. Jedoch würde ich mich auch gegen Volksabstimmungen auf Bundesebene in Deutschland aussprechen. Was viele vergessen: Das schweizer (halb-)direktdemokratische System und das deutsche parlamentarische System existieren nicht im luftleeren Raum. Die direkte Demokratie in der Schweiz funktioniert nur im Zusammenspiel mit dem konsensorientierten politischen System, wo alle grossen politischen Kräfte in die Regierung eingebunden und in unserem Bundesrat vertreten sind (aktuell vier Parteien). Das Stimmvolk befindet sich mit den direktdemokratischen Instrumenten gegenüber der Regierung in einer Vetoposition. Würde man die Volksinitiativen und Referenden nun in einem Regierungs-Oppositions-System wie dem Deutschen erlauben, wäre jeden Monat mit Abstimmungen zu rechnen – oder die Hürden müssten enorm hoch sein.Ich erhoffe mir, dass dieser Punkt in künftigen Debatten über direkte Demokratie in Deutschland mehr Beachtung finden wird. Übrigens: Die Inschrift am deutschen Bundestag lautet: «Dem Deutschen Volke». Jene an der Universität Zürich «Durch den Willen des Volkes». Verrät uns das etwas über das unterschiedliche Demokratieverständnis in unseren Ländern?

AK: Betrachtet man den Zeitraum, in dem die Giebelinschrift angebracht wurde, also während des ersten Weltkrieges, die damalige Verfassung des Kaiserreiches sowie die Bevölkerungszahl, sehe ich es vielmehr als Ehrung des Volkes und weniger als Zeichen der Entscheidungsfreiheit. Es wird zum Wohle der Bürger Politik gemacht, die sich anders als in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen musste, um bestehen zu können. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.

Seit der Gründung von Polis180 in Berlin vor drei Jahren findet der aussen- und europapolitische Austausch kontinuierlich mit seinem Schwesterverein foraus in der Schweiz statt, insbesondere mit Fokus auf inklusive Partizipationsmöglichkeiten. Welche Rolle werden Denkfabriken und wissenschaftliche Plattformen in der Zukunft spielen?

Simon: Inputs und Erklärungsmuster liefern und Menschen zusammenbringen. Das wird in einer komplexeren und multipolaren Welt zunehmend gefragt. Zudem bieten gerade junge Think Tanks wie unsere beiden die Möglichkeit, gemeinsam neue Modelle für die Zukunft zu entwickeln. In meiner Erfahrung kann das sehr bereichernd sein. Was meinst du aus der Perspektive von Polis180 dazu?

AK: Was Grassroots ausmacht, hat einen großen Mehrwert für die Mitglieder, für den Verein und für seine Zielgruppen. Und das ist nur der Anfang. Wir setzen auf inklusive Diskussionsrunden und können so weitaus mehr Leute erreichen, ohne an Qualität einzubüssen. Jeder nimmt seine Rolle sehr ernst, da es um mehr als persönliche Bedürfnisse geht. Und das in Verbindung mit dem analytischen Charakter unserer Arbeit in der Aussen- und Europapolitik schafft meines Erachtens eine Plattform, die sich langfristig fest etablieren wird, in Berlin, Deutschland und über die Grenzen hinaus.