Europa hat gewählt. Das Meinungsspektrum im EU-Parlament ist vielfältiger geworden. Alle Handlungsoptionen, welche die Kommission 2017 in ihren Zukunftsszenarien vorgelegt hat, bleiben somit wohl offen: Weder ein Rückbau noch ein Ausbau der Gemeinschaftsbereiche dürften explizit bevorzugt werden. Das Ringen um die Zuständigkeiten wird anhalten.
In der Schweiz haben sich nur wenige Personen und Organisationen zu diesen Zukunftsszenarien geäussert. Das Rahmenabkommen absorbiert die politischen Kräfte so sehr, dass der Blick auf das höhere Interesse der Schweiz an einem nachhaltigen, kompetitiven Europa und dabei einer funktionsfähigen Gemeinschaft, verdeckt zu werden droht.
Eine Schweizer Europa-Debatte ist aber wichtig. Sie darf nicht nur unserer eigenen Situation im länderübergreifenden Kontext gelten. Es geht um mehr: Die Union ist eine institutionelle Möglichkeit, in der wichtige gemeinsame Sachfragen behandelt werden, von der Wirtschafts- bis zur Umweltpolitik, von der Sicherheitspolitik bis zu den Migrationsfragen und zur politischen Begleitung der Globalisierung. Es stellt sich die Frage, ob es geeignetere Gefässe gäbe.
Diese Debatte sollte unabhängig von der Beitrittsfrage geführt werden. Sie hat primär unser Schweizer Bemühen auszudrücken, in europäischen Angelegenheiten mitzudenken und mitzuwirken. Es geht um ein Klima der Offenheit, in dem wir uns als Europäerinnen und Europäer verstehen und das vermehrt auch nach aussen zu erkennen geben. Erst durch Mitsprache wahren wir unsere Souveränität.
Zumindest unsere Abhängigkeiten von Europa sollten wir wahrnehmen: Wir sind auf die Marktausweitung, auf den Entfaltungsraum für die bildungswillige Jugend, auf ein ausländisches Arbeitskräftereservoir, auf Solidarität in der Umweltpolitik, auf internationale Strom- und Verkehrsnetze und einen Schutzschild angewiesen.
Viele Politikbereiche bedürfen also der für unsere Zukunft nötigen überstaatlichen Gestaltung. Eine Gemeinschaft muss sich ihrer in einem Rahmen annehmen, der vom Willen zu Demokratie, Solidarität und Rechtsstaatlichkeit geprägt ist. Denn nur so lässt sich Stabilität auf europäischer Ebene erreichen.
Konstruktive Kritik an der Union hat durchaus ihren Platz. Man kann ihr Schwächen vorwerfen, doch ist oft nicht die EU schuld. Besonders dann nicht, wenn ihr die Mitglieder die nötigen Kompetenzen versagen oder wenn sie in geteilter Zuständigkeit handelt. Es sind die Ländervertreterinnen und Vertreter, die in der Union das Recht sprechen, das sie im eigenen Rahmen umzusetzen haben.
Immer wieder ist die Rede von der Schweiz als Modell für eine solche europäische Gemeinschaft. Ja, wir können bezüglich Demokratie und mehrere Staatsebenen übergreifenden Wirkens in der Europa-Debatte wichtige Impulse einbringen. Und wir können auf lange Lernprozesse in Sachen Wahrung von Handlungsfähigkeit beim Zusammenleben in Vielfalt zurückgreifen. Als Europa nach dem 2. Weltkrieg daniederlag, spielten Schweizer Stimmen für seine Neukonstruktion eine wichtige Rolle.
Aus Schweizer Sicht lassen sich institutionelle und sachpolitische Leitgedanken für ein zukunftsfähiges Europa formulieren. Indem wir klar sagen, was wir anstreben, können wir dann auch die Entwicklung und die Errungenschaften der Union besser beurteilen.
Diese Evaluation führt weg von Pauschalurteilen und ergibt ein differenziertes Bild:
1. Bereiche, in denen die Union unsere Erwartungen weitgehend erfüllt
- Über ihre Vertragsfolgen hat die EU ein Niveau an Demokratie erreicht, das einigen Mitgliedstaaten gut anstünde. Sie tendiert – entgegen der Behauptung Vieler – auf einen von uns schon immer favorisierten Föderalismus hin. Dennoch hätten wir einige Anregungen, etwa in Richtung Initiativrecht des Parlaments und Bürgernähe.
- Sodann verfügt die EU über eine Binnenmarktordnung, welche die unternehmerische Entfaltung unter Anreizen und Regelungen spielen lässt, die auch sozialen und ökologischen Anliegen verpflichtet sind. Sie fördert einen wichtigen Qualitätswettbewerb.
- Mit den neueren Freihandelsabkommen nimmt sie Rücksicht auf Nachhaltigkeit und lokale Empfindlichkeiten; teils teilt sie die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten. Die einschlägige Schiedsgerichtsbarkeit hat an Reife gewonnen.
2. Bereiche, die aus Schweizer Sicht als unfertig erscheinen
- Vorbehalte zur Personenfreizügigkeit sind bei den wirtschaftsstarken Mitgliedern verbreitet. Doch kennt die EU wie wir den Grundsatz der Verhältnismässigkeit; das letzte Wort ist wohl noch nicht gesprochen. Und Widerstände gegen die Dienstleistungsfreiheit haben einige Hochlohnländer noch vor der Entsenderichtlinie bereits durch wendige Lohnschutzlösungen abgebaut.
- Die Globalisierung und die Einheitswährung haben zwischenstaatliche Disparitäten in Europa verstärkt. Die Kohäsions- und Regionalpolitik stösst an ihre Grenzen. Es empfiehlt sich, schrittweise vorzugehen und selbst ein Opting-Out aus dem Euroraum nicht auszuschliessen. Generell aber ist mehr Finanzdisziplin nötig und aus Schweizer Sicht ein expliziter Finanzausgleich anzustreben.
3. Bereiche mit speziell hohen Gestaltungshürden
- Nur vage Konturen hat die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Interessen der Mitglieder driften auseinander. Die Union tut sich schwer mit der Rüstungskooperation und Friedensmissionen in Krisengebieten – beides wäre auch aus unserer Schweizer Sicht wichtig. Möglicherweise sollte eine Gruppe entscheidungs- und handlungsfähiger Staaten als eine Art Konkordat die Umsetzung spezifisch europäischer Ziele vorantreiben.
- Ähnliches gilt für die europäische Migrationspolitik. Die Verteilung der Flüchtlinge und Zuwandernden, ihre Integration, der Schutz der Aussengrenzen und die Ursachenbekämpfung des Problems spalten die Staatengemeinschaft.
In der Aussenwirtschaftspolitik zielt die EU neben dem Freihandel eine politisch begleitete Globalisierung an, die wir nur begrüssen können. Als regionale Gestaltungsmacht könnte sie weltweit schrittmachend zur Besteuerung internationaler Konzerne und Transportsysteme, zu fairen Handelsregelungen mit den Entwicklungsländern und zu breitgestreuter Nutzungsverteilung im Rohstoffbereich beitragen.
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