Fern und irrelevant? – Die Schweiz und die entstehende multipolare Weltordnung eurasischer Prägung

Der «unipolare Moment» der Jahrzehnte westlicher Vorherrschaft wird abgelöst von einer multipolaren Weltordnung. Die Schweiz täte gut daran, sich eingehend für den im Zentrum des geopolitischen und geoökonomischen Wandels stehenden Prozess der eurasischen Integration zu interessieren.

Diplomatie & acteurs internationaux

Vor zwei Jahren hatte ich die Gelegenheit, in einem informellen Gespräch eine einflussreiche Schweizer Politperson zu fragen, wie sie auf den immer wichtiger werdenden Prozess der eurasischen Integration im Rahmen der entstehenden multipolaren Weltordnung blicke. Das Thema der Frage schien zu überraschen, und die Antwort lautete, dass diese Dinge sowieso nicht bei uns entschieden werden. Sogar dieser aussenpolitisch versierten Person schien die Frage nicht sonderlich relevant.

Währenddessen treiben die eurasischen Mächte das Entstehen einer multipolaren Weltordnung voran. Abgesehen von China, Russland, Indien, Iran, und den Arabischen Staaten sind auch Länder Afrikas und Lateinamerikas – also des ganzen «globalen Südens» – daran beteiligt. Es handelt sich um eine wachsende Integration von Handel, Infrastrukturaufbau, Sicherheitskooperation sowie politökonomischer Zusammenarbeit in sämtlichen Bereichen. Zentrale Institutionen dieser Entwicklungen sind die BRICS+, die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), die Eurasische Wirtschaftsunion, die Neue Seidenstrasse, der Internationale Nord-Süd-Transportkorridor oder auch die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank (AIIB).

Diesen Oktober haben sich die Staatschefs der BRICS-Staaten in Kazan zum jährlichen Gipfeltreffen getroffen. Wie erwartet wurden weitere Bausteine für eine Alternative zum rund um den US-Dollar und westliche – respektive anglo-amerikanische – Hegemonie aufgebauten Weltwirtschaftssystem zusammengefügt. Speziell nennenswert sind Schritte in Richtung einer neuen globalen Finanzinfrastruktur, welche langfristig in ihrer Tragweite den Folgen von Bretton Woods nahekommen und dessen Institutionen sogar ablösen könnten. Darüber hinaus wurde diesen Juli am SOZ-Gipfel in Astana von nichts Geringerem als einer eurasischen Sicherheitsordnung in einer Logik von Unteilbarkeit der Sicherheit gesprochen, sowie vom Konzept einer «Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Zukunft für die Menschheit» und den «Fünf Prinzipien einer friedlichen Koexistenz». Ersteres ist das ursprünglich von Russland stammende Konzept der kollektiven Sicherheit, welches besagt, dass Sicherheit der einen nicht zu Lasten von anderen geschaffen werden kann und darf. Das andere sind zentrale Konzepte der chinesischen Diplomatie, welche zum Teil auf die Bewegung der Blockfreien Staaten aus den 1960er Jahren zurückgehen. Mir ist keine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Konzepten in unserem öffentlichen Diskurs bekannt. Sie scheinen mir aber durchaus wert, bekannt gemacht und vertieft diskutiert zu werden.

Schlagworte wie Multipolarität oder Entdollarisierung – die Tendenz zur Infragestellung des US-Dollars als Reserve- und Handelswährung – haben zwar in jüngster Zeit eine gewisse Verbreitung erfahren. Doch von einer tiefgreifenden Debatte ist in der Schweiz wenig zu spüren. Die wichtigste geopolitische und geoökonomische Entwicklung unserer Zeit ist in zu vielen Köpfen nicht einmal präsent. Wo der Begriff der Multipolarität erwähnt wird, geschieht es innerhalb der Denkschablonen der unipolaren Weltordnung. In äusserster Seltenheit wird suggeriert, dass die Schweiz sich durchaus auch über Europa und den Westen hinaus Gedanken machen dürfte. Während die Option der zunehmenden Anbindung an EU und NATO unter amerikanischer Schirmherrschaft bis ins Detail bekannt ist und laufend auf der Agenda steht, wird das Spektrum von weiteren eventuell existierenden Optionen nicht einmal ergründet. So wurde zwar dieses Jahr in einem NZZ-Kommentar die bisher weitgehend einem Tabubruch nahekommende Option eines Schweizer NATO-Beitrittsplans vorgeschlagen. Ernsthafte und konstruktive Überlegungen zur eurasischen Integration – ob es sich dabei bloss um eine ehrliche Auseinandersetzung mit Konzepten der Multipolarität, oder gar um die Option einer BRICS-Annäherung handle – fehlen im Jahr 2024 noch fast vollständig.

Frappierend ist dabei der Kontrast: Während Unipolarität und die weitere Annäherung an ihre zentralen Akteure in der Politdebatte wie selbstverständlich präsent sind, wird Multipolarität trotz ihrer kaum mehr bezweifelbaren Relevanz weder als Realität noch als visionäre Idee überhaupt erst wahrgenommen. Diese unhaltbare Diskrepanz lässt sich meines Erachtens nur dadurch erklären, dass der Denkraum in der Schweiz von einerseits transatlantischen und andererseits unipolar-hegemonialen Parametern bestimmt wird. Was sieben Milliarden Menschen der globalen Mehrheit, die nicht in OECD-Staaten leben, als Probleme unipolar-hegemonialen Ursprungs erkannt haben, wird bei uns nach wie vor mehrheitlich als regel- und wertbasierte liberale und dadurch per se positive Ordnung angesehen.

Auch Schweizer Diplomaten gestehen unter vorgehaltener Hand, dass sie die Weltordnung nur noch sehr lückenhaft nach dem westlichen Propagandamodell beschreiben und verteidigen können. Und doch lauten die Grundparameter nach wie vor, kurz gesagt, «wir sind die Guten», das heisst eine moralisch überlegene Gesellschaft, und «wir haben das Recht oder die Pflicht, in Bezug auf andere aktiv zu werden, auch in Abwesenheit eines globalen Konsenses (und unabhängig vom Völkerrecht)». Diese Annahmen führen zu einer Aufteilung der Welt in die guten Demokratien des Westens und die unguten Autokratien Eurasiens, welche angeblich rechtfertigen soll, dass von den «Autokraten» stammende Ideen und Realitäten gar nicht erst zu begutachten sind. Seriöser und – angesichts der eigenen Inkohärenz – auch ehrlicher wäre es, alle Aspekte der entstehenden multipolaren Weltordnung eingehend zu diskutieren. Falls sich deren Konzepte als untauglich und unbrauchbar erweisen, sollte man sie mit Argumenten verwerfen, anstatt sie gar nicht erst in die Debatte aufzunehmen.

Die Schweiz und der gesamte Westen stehen vor einer Zeit des Wandels. Unabhängig davon, ob man Multipolarisierung und eurasische Integration für wünschenswert hält oder nicht, sollten wir ihnen aufgeklärt begegnen.