Wider Erwarten gewann die AKP die Wahlen in der Türkei mit ihrem bisher besten Resultat. Knapp 50 Prozent der türkischen Bevölkerung haben sich somit für Stabilität und Kontinuität ausgesprochen. In Anbetracht der vielen Herausforderungen wird sich bald herausstellen, wie lange diese wirklich währen werden.
Erdogans Strategie ist aufgegangen: Zuerst Instabilität provozieren, um sich danach als starken Mann und als Garant für die Stabilität zu präsentieren. Die türkischen Wähler haben sich für Stabilität und Kontinuität entschieden anstatt für Diversität und demokratische Grundwerte. Erdogan wartete nicht lange die gesamte Weltpresse zu verunglimpfen und alle dazu aufzurufen, die demokratischen Wahlen und ihr Ergebnis zu respektieren. Über 85 Prozent der Stimmberechtigten nahmen an den Wahlen teil, welche von der internationalen Beobachtermission als gut organisiert und generell friedlich bezeichnet wurden (auch wenn die kritische Sicherheitslage und fehlende Medienfreiheit beanstandet wurden).
Als wirklich frei und fair können sie jedoch nicht deklariert werden. Das Problem ist, dass für Erdogan die Demokratie bei Wahlen beginnt und nach Deklarierung des Resultats (solange es sich um einen Sieg für die AKP handelt) wieder aufhört. Werte wie Pressefreiheit, freie Meinungsäusserung, Gewaltenteilung gehören nach seinem Weltbild nicht dazu. So wurden wenige Tage vor den Wahlen regierungskritische Medien mit Polizeigewalt gestürmt und stumm geschaltet, bevor sie dann tags darauf in neuem, regierungsfreundlichem Gewand erschienen. Im Staatsfernsehen erhielt Präsident Erdogan – dessen Amt eigentlich nach politischer Neutralität und Zurückhaltung verpflichtet – ein Mehrfaches an Sendezeit als alle anderen Parteiführer gemeinsam.
Die Gewalt dominiert den Wahlkampf
Die Stabilität und Sicherheit im Lande nahm nach den Wahlen im Juni drastisch ab. Der Friedensprozess mit der PKK wurde abgebrochen und eine neue Kampagne gegen die kurdischen Freiheitskämpfer lanciert. Hausdursuchungen, Notstand, abgeriegelte Städte und Luftangriffe gegen Stellungen der PKK gehörten zum Alltag im Südosten des Landes. Die PKK hielt sich ebenfalls nicht zurück, ermordete Polizisten und beging Anschläge gegen das türkische Militär. Seit den Wahlen im Juni haben mehrere Terroranschläge das Land erschüttert. Der Anschlag auf eine pro-kurdische Kundgebung im Juli in Suruc führte zum Abbruch der Friedensverhandlungen und zu offenen Kämpfen zwischen PKK und Armee. Der schlimmste Anschlag in der Geschichte des Landes am 10. Oktober in Ankara forderte über hundert Todesopfer. Die Rolle des Staates und des Geheimdienstes warfen einige kritische Fragen auf. Im Anschluss an diesen Anschlag unterbrachen die CHP und die HDP ihre Kampagnen.
Nicht so die AKP, welche nicht nur den IS der Tat beschuldigte (wie allgemein angenommen), sondern auch die kurdische PKK bezichtigte, am Anschlag beteiligt gewesen zu sein. Dass eine Täterschaft der PKK wenig plausibel ist, da sie mit dem IS verfeindet ist und die Opfer des Anschlags hauptsächlich Kurden waren, wurde freimütig ignoriert. Es galt das Feindbild PKK an die Wand zu malen um die Wählerschaft davon zu überzeugen, dass die AKP die einzige stabilisierende Kraft im Land ist. Ausschlaggebend für den Wahlerfolg waren denn auch die vielen Wechselwähler, welche von der ultranationalistischen MHP zur AKP wechselten sowie die Rückkehr konservativer HDP-Stimmen zur AKP.
Auf zur neuen Türkei?
Die Türkei wird mit aller Voraussicht die nächsten vier Jahre von einer AKP-Einheitsregierung geführt werden. Was bedeutet dies für das Land? Und wie wird die türkische Aussenpolitik aussehen? Die AKP hat zwar eine absolute Mehrheit im Parlament, jedoch keine Zweidrittelmehrheit. Erdogans Projekt die Verfassung zu ändern und ein Präsidialsystem einzuführen wird also weiterhin ein kaum realisierbares Unterfangen. Dies heisst jedoch keinesfalls, dass sich Erdogan mit seiner Rolle als einzig repräsentierender Präsident zufrieden geben wird. Viel eher wird er weiterhin als starker Mann hinter Premierminister Davutoglu die Geschicke im Land lenken. Es ginge sowieso nur mehr darum, ein System, welches laut Erdogan de-facto bereits existiert, auch noch in die Verfassung zu schreiben.
Auch wenn jetzt die Zeit reif wäre die andauernde Polarisierung und Verunglimpfung Andersdenkender einzustellen, so besteht wenig Hoffnung dass dies unter Erdogan geschehen wird. Wahrscheinlicher scheint, dass Erdogan mit neuer Vehemenz versuchen wird seine „neue Türkei“ zu bauen um dann im Jahr 2023 – dem hundertjährigen Jubiläum der türkischen Republik – als starker Mann dazustehen und in die Geschichtsbücher einzugehen. Man kann sich vorstellen, wie der zunehmend autoritär agierende Erdogan gegen Kritiker vorgehen wird. Gezi-Park lässt grüssen. Erdogan kann sicher der totalen Unterstützung seiner Sympathisanten und Wähler sicher sein. Trotzdem wird er auch in Zukunft nur Präsident der Hälfte der Türkei bleiben.
Aussenpolitische Knackpunkte
Was bedeutet das Wahlresultat für die türkischen Aussenbeziehungen und speziell für die Beziehungen zur EU? Schon seit Jahren stocken die Beitrittsgespräche zwischen der Türkei und der EU. Und sowohl Erdogan als auch Davutoglu gelten nicht als grosse Freunde einer zu stark nach Westen orientierten Aussenpolitik. Davutoglu, der als Premierminister die Regierungsverantwortung hat, gilt als Architekt der neuen, neo-osmanischen türkischen Aussenpolitik. So hat die Türkei zum Ziel, basierend auf ihrer historischen und geographischen „Tiefe“, zur regionalen Macht aufzusteigen. Dass diese Politik aber gescheitert ist, will innerhalb der AKP niemand so recht zur Kenntnis nehmen. Allen voran die Situation in Syrien, welche sich durch die russische Intervention weiter zugespitzt hat, bereitet der Türkei Sorgen. Den syrischen Herrscher al-Assad durch Unterstützung der syrischen Opposition zu stürzen, ist als Ziel in weite Ferne gerückt.
Gleichzeitig beherbergt die Türkei über zwei Millionen syrische Flüchtlinge auf ihrem Territorium. Dies wird denn auch ein wichtiger Knackpunkt in den Beziehungen mit der EU sein: damit die Flüchtlingskrise in Europe nicht völlig aus dem Ruder läuft, ist die EU auf eine gute Zusammenarbeit mit der Türkei angewiesen. Kritik am repressiven Führungsstil Erdogans wird da kaum laut werden. Insbesondere da Erdogans Wahlerfolg die Flüchtlingsdiskussionen mit der EU erleichtern könnte, sofern sich die AKP-Regierung dazu durchringt unpopuläre Massnahmen, wie Arbeitsbewilligungen für syrische Flüchtlinge, umzusetzen. Die Türkei ist Mitglied der NATO und somit fester Bestandteil westlicher Sicherheitsstrukturen. Auf politischer Ebene ist das Verhältnis weniger warm. Es bleibt offen, in welche Richtung sich die Türkei orientieren wird. Die Beziehungen zu Russland, welche vom damaligen russischen Präsidenten Medwedew einst als „umfassende strategische Partnerschaft“ bezeichnet wurden, haben sich im Zuge der Syrienkrise merklich abgekühlt. Im Nahen Osten steht die Türkei ziemlich alleine da: die Beziehungen zu Syrien, Ägypten und Israel sind so schlecht, dass dort nicht mal ein türkischer Botschafter stationiert ist. Der grosse Gegenspieler Iran unterstützt das syrische Regime. Der kürzlich unterzeichnete Atomvertrag wird die Lage Irans und dessen Beziehungen zum Westen weiter verbessern. Die Türkei steht also zunehmend isoliert da. Und eine klare aussenpolitische Strategie ist nirgends in Sicht.
Der bedrohte Frieden
Die beiden grössten Herausforderungen für die Türkei in nächster Zeit sind jedoch die Zukunft des Friedensprozess mit den Kurden und der IS-Terror. Bereits am Wahlabend fanden in kurdischen Städten die ersten Scharmützel statt und die PKK scheint wohl momentan nicht gewillt mit Erdogan an einen Tisch zu sitzen. Gleichzeitig kam die Türkei stärker ins Visier des IS, welcher bereits mehrere Attentate auf türkischem Boden beging und eine Vielzahl von Terrorzellen im Land aufgebaut hat. Die Türkei hat in der Zwischenzeit realisiert, dass die Dschihadisten des IS zu lange geduldet wurden und begann gegen sie vorzugehen. Doch der Terroranschlag in Ankara hat gezeigt, dass die Terroristen auch trotz strenger Bewachung durch den Geheimdienst in der Lage sind ihre Angriffe durchzuführen. Die wichtigste Herausforderung bleibt also zu verhindern, dass es in der Türkei zu einem Zweifrontenkrieg sowohl gegen die PKK als auch gegen den IS kommt.
Es ist noch zu früh die Wahlresultate abschliessen zu bewerten. Einst scheint jedoch festzustehen: die Türkei hat sich in diesen Wahlen für Stabilität und Kontinuität ausgesprochen, wie lange diese wirklich währen werden, wird sich wohl bald herausstellen.