Von Oliver Thommen – Wirtschaftskrise, Migration und Europäische Integration sind nur einige der Begriffe, welche das Schweizer Selbstverständnis erschüttert zu haben scheinen. Zudem scheint sich die Akzeptanz für Schweizer Positionen im Ausland zu verringern. Zeit, dass sich die neu formierte Arbeitsgruppe „Identität Schweiz“ diesen Problematiken annimmt.
Identität ist ein vielschichtiger Prozess, der jeden Menschen Zeit seines Lebens einnimmt. Ohne Verständnis der eigenen Person wäre jede Interaktion mit anderen Menschen Makulatur. Erst durch die reflexive Wahrnehmung des Selbst durch sich selbst und die Wahrnehmung durch andere, können wir uns als Individuen begreifen und werden handlungsfähig. Was für eine Person gilt, kann auch über Gruppen oder Kollektive gesagt werden.
Doch wie lässt sich die Identität eines Landes beschreiben? Normalerweise wird davon ausgegangen, dass ein Staat einer nationalen Identität entspringt, also ein Nationalstaat ist; und dass sich eine Nation über eine gemeinsame Sprache, Tradition und Abstammung definiert. Doch schnell wird klar, dass dies kaum je der Fall ist – insbesondere nicht in der Schweiz.
Ein Land ohne Nation
Die Schweiz brüstet sich mit vier Landessprachen, welche der Findung einer einheitlichen Identität kaum dienlich ist. Selbiges gilt für die Tradition: Stets war das schweizerische Staatsgebiet in grösseren räumlichen Kontexten zu verstehen, die Grenzen des im 19. Jahrhunderts gegründeten Staates waren zunächst vor allem Zollgrenzen und nicht Grenzen des menschlichen Zusammenlebens. Letztlich ist auch die Idee einer gemeinsamen Abstammung dank der biologischen Erkenntnisse des späteren 20. Jahrhunderts und der Migrationsforschung widerlegt worden. Der Nationalstaat, die Nation kann im Fall der Schweiz also nicht der übergeordnete Referenzrahmen für eine Identität sein.
Ähnlich wie sich später Deutschland nach dem 2. Weltkrieg seine Geschichte zu erklären versuchte, vollzog die junge Schweiz des 19. Jahrhunderts deshalb eine Volte. Die traditionellen Erklärungsmuster der eigenen nationalen Identität wurden über Bord geworfen und es wurde eine Art Anti-These konstruiert: Die Schweiz als demokratischer Sonderfall inmitten des autoritären Europas. Dies ging so lange gut, wie die europäische Umgebung tatsächlich autoritär war. Doch spätestens nach der europäischen Einigung funktioniert diese Anti-These des Schweizer Sonderwegs nicht mehr, auch wenn diese zuweilen noch hochgehalten wird und das Autoritäre in die europäische Verwaltung projiziert wird.
Me, myself and I
Es ist schliesslich diese Identitätskrise, welche den Problemen der Schweizer Politik der letzten 20 Jahren ihren Stempel aufgedrückt hat: Exemplarisch zeigte sich dies sowohl bei der EWR-Abstimmung in den frühen 90er Jahren als auch bei der Minarett-Initiative. Die Schweiz ist auf der Suche nach ihrer Identität innerhalb Europas und der Welt. Wird davon ausgegangen, dass sich Identität über das Andere konstruiert, ergibt sich die aussenpolitische Relevanz für die Frage nach der eigenen Identität. Denn nur wer Vorstellung davon hat, wer er/sie ist, weiss, was er/sie will. Positionen lassen sich so besser finden, gesellschaftlich breit abstützen und schliesslich gegenüber dem Anderen vertreten.
Oliver Thommen, lebt in Basel, studierte Geschichte, Islamwissenschaft und Soziologie. Er ist Redaktor des foraus-Blog und Leiter der Arbeitsgruppe Identität Schweiz.
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