Von Jonas Schmid – Nationen sind Konstrukte, zusammengebastelt aus verschiedensten Elementen. Trotz Herkunfts- und blutsorientierter Mitgliederkontrolle, schätzen die Schweizer einen modernen Sprachen- und Kulturpluralismus. Dabei berufen sie sich nebst Schokolade und Bergen aber primär auf ganz andere Identifikations- und Identitätsmerkmale.
Mit diesem Beitrag wird die Blog-Reihe zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU fortgesetzt. Die Reihe versucht, den Ist-Zustand sowie Chancen und Risiken von künftigen Entwicklungen aufzuzeigen und zu gewichten.
Was kommt Dir, lieber Leser, als erstes in den Sinn wenn Du Dich fragst, was Schweizersein heisst? Ist es die Sprache, die Du sprichst? Oder die Berge, die Du als moderner, urbaner Mensch von Deinem Zimmerfenster aus leider nicht siehst, aber im Kopf hast? Oder denkst Du gar an die Cervelat, Schokolade oder Rivella?
Selbst in der kleinsten Nation kann niemand alle persönlich kennen, trotzdem existiert im Kopf eines jeden die Vorstellung einer Gemeinschaft. Eine Nation ist daher eine „vorgestellte“ Gesellschaft, deren gemeinsame Identität mit Unpersönlichem gefüllt werden muss. So dienen gemeinsame (bildliche und räumliche) Repräsentationen, die Organisation des Gemeinwesens, die Wirtschaft sowie die Medien als Platzhalter für die fehlenden Individualkontakte. Das Spektrum dazu ist breit: Es reicht von der Kuh auf der Bergweide zur Mikrotechnischen Fabrikation von High-Tech Uhren. Nur durch solche Bilder wird eine kollektive Solidarität, also eine Nation, ermöglicht.
Kommt nun eine supranationale Ebene wie die EU ins Spiel wird die Identität noch mehrschichtiger. Nebst einer Gemeinde-, Kantons- und nationalen Identität, hat die Supranationale einen sehr schweren Stand. Die EU hat es im Gegensatz zu ihren Mitgliedsstaaten noch nicht geschafft eine kollektive Solidarität aufzubauen, welche einer gleichwertigen Identität entsprechen würde.
Alle Staaten enthalten Elemente eines herkunftsorientierten, ausschliessend homogenen Nationenverständnisses und seinem Antipoden, dem inklusiven, ziel- und projektorientierten Willensnationskonzept. Die Schweiz hat z.B. eine strenge, blutsorientierte Einbürgerungspraxis, ist aber im Aspekt der funktionierenden Multikulturalität und Mehrsprachigkeit sehr modern.
Gewiss kann die Schweiz nicht als kulturell-homogenes Gefüge verstanden werden, als Folge davon hat die Identität anderswo Fuss fassen müssen. Meiner Meinung nach stützt sie sich stark auf dem, was die Bevölkerungsgruppen verbindet und was die Schweiz gleichzeitig vom Ausland abgrenzt: Das sind fast einzig und allein die Eigenheiten der Institutionen und der Polit-Kultur.
Die vier auffallend stark in der Bevölkerung verankerten Merkmale sind die direkte Demokratie, Föderalismus, Kollegialität und Konkordanz. Die Referendumsfeste Vernehmlassungen und ein kompliziertes System von kantonalen Mitspracherechten gehören ebenfalls zum Selbstverständnis der Bevölkerung. Laut dem Philosophen Jürgen Habermas „[…]trägt die direkte Demokratie dazu bei, aus Bevölkerungsgruppen, die nur wenige gemeinsame Elemente haben, eine Öffentlichkeit zu bilden.“ Jene Öffentlichkeit „[…] leitet die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen nicht aus vorpolitischen Gemeinsamkeiten ab, sondern aus der freiwilligen, überzeugten Zustimmung zu den zentralen Prinzipien liberaler Verfassungen und aus der möglichst aktiven Beteiligung an einer vielfältigen politischen Praxis“ (Jan-Werner Müller). Dieser Verfassungspatriotismus ist der Kernpunkt des politischen Schweizerseins. Es ist daher klar, dass jegliches Rütteln an den traditionellen politischen Prinzipien grosse Wellen wirft – sei es bei der Diskussion um den Integrationsgrad der Schweiz mit der EU oder bei der SVP-Initiative zur Volkswahl des Bundesrates.
Sicherlich gehören die idyllische, saftige Bergmatte, wie auch die Schokolade, Käse und die Uhrenfabrikation (etc.) zum Bild des Schweizerseins. Diese Bilder sind aber weit davon entfernt einzigartig zu sein, denn zum Beispiel kennt Österreich das Bild der Alpwiese auch und Belgien ist auch stolz auf dessen Schokolade. In der Realität reduziert die individualistische Lebensweise von Schweizern den gemeinsamen Nenner an repräsentativ Schweizerischem auf jene Dinge, welche die Bevölkerung im Alltag zu Sozial- und Loyalitätspartnern macht. Und das sind schlussendlich nur die staatsweiten Institutionen.
Jonas Schmid macht einen Master in Vergleichender Internationaler Politik an der ETH Zürich und lebt in Bern.
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