Das Vertrauen der Öffentlichkeit in den Schweizer Staat und die Gewissheit in die Neutralität sind nicht mehr, was sie vor Crypto-Leaks waren. Was die Recherchen der Rundschau, ZDF und Washington Post offenbaren, ist schwer verdaulich. Dass die Primärquelle – der Minerva-Bericht – der Öffentlichkeit vorenthalten ist, verunmöglicht Verdauen und Vertrauen.
Mögliche Verletzung des Neutralitätsrechts
Der Crypto-Leaks-Skandal wird im Ausland wahrgenommen – und die betrogenen Staaten sind mit Sicherheit «not amused». Hat das Konsequenzen für unsere Neutralität? Mit grösster Wahrscheinlichkeit, denn die Glaubwürdigkeit der neutralen Schweiz ist durch den Skandal gesunken. Aber nicht nur der Anschein der politischen Neutralität hat Schaden genommen. Die Schweiz könnte auch Neutralitätsrecht verletzt haben – und dies gefährdet unsere nationale Sicherheit, wird sie doch zu einem grossen Teil über die rechtliche Neutralität garantiert: Die Schweiz hat sich im Haager Abkommen von 1907 rechtlich zur Neutralität verpflichtet. Eine der wichtigsten Pflichten dieses Abkommens ist es, Kriegsparteien ihr Staatsgebiet nicht zur Verfügung zu stellen und diese in Hinblick auf den Export von Rüstungsgütern gleich zu behandeln. Im Gegenzug verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, die Unverletzlichkeit des Gebiets der neutralen Staaten zu wahren.
Die Schweiz soll gemäss den journalistischen Reporten die wichtigste Komplizin des deutschen und amerikanischen Geheimdienstes gewesen sein. Sie hat den Vereinigten Staaten und Deutschland über Jahrzehnte ihr neutrales Staatsterritorium für Zwecke des militärischen Nachrichtendienstes zur Verfügung gestellt und könnte damit ihre völkerrechtlichen Pflichten verletzt haben. Zudem hat die Schweiz die Kriegsparteien nicht gleichbehandelt, weil sie die Vereinigten Staaten und Deutschland unter Verletzung der Exportbestimmungen militärisch bevorteilt hat, in dem sie deren Kriegsgegnern gezinkte Chiffriermaschinen verkauft hat. Aufgrund dieser potenziellen Vertragsverletzung muss die Neutralität öffentlich hinterfragt und wiederhergestellt werden – und die Wiederherstellung der Neutralität verlangt eine lückenlose Aufklärung des Crypto-Leaks-Skandals. Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Minerva-Bericht offengelegt werden muss, damit das tatsächliche Verschulden der Schweiz restlos geklärt werden kann.
Öffentliches Interesse an Veröffentlichung des Minerva-Berichts
Die Öffentlichkeit muss selber oder über eine Untersuchungskommission erfahren, ob jemand und wer ihre nationale Sicherheit gefährdet hat. Schliesslich ist in der Schweiz die Bevölkerung in der Pflicht, demokratisch zu bestimmen, wen sie wählt und wem sie vertraut. Das geht nur, wenn sie alle Beweise zum Geschehenen würdigen kann, mitunter und insbesondere die Primärquelle – den Minerva-Bericht. Das Ausmass des Verschuldens schweizerischer Amtsträger lässt sich nicht glaubwürdig über Sekundärquellen, wie etwa die Reportagen von ZDF und SRF Rundschau, ermitteln – weder durch die Öffentlichkeit noch durch eine Untersuchungskommission – wenn der Minerva-Bericht, auf dem alles basiert, nicht einsehbar ist. Sich auf die Aussagen von früheren vermeintlich involvierten Amtsträgern zu verlassen, wäre schlicht unseriös, gerade weil diese in der Rundschau-Reportage als mutmassliche Mitwisser dargestellt werden. Die Untersuchung einer parlamentarischen Kommission aus Parteienvertretern mit offensichtlichen Eigeninteressen zu überlassen ist für einen Skandal diesen Ausmasses nicht glaubwürdig und transparent genug. Zumal eine Geschäftsprüfungsdelegation oder eine PUK den Minerva-Bericht ebenfalls zuerst als Beweismittel einfordern müsste, ehe diese über die Verschuldensfrage urteilen kann. Eine Entscheidfindung ohne Würdigung des Hauptbeweismittels wäre vergleichbar mit dem Versuch, eine Piñata mit verbundenen Augen zu treffen, während alle erwartungsvoll zusehen.
Interessenabwägung
Sowohl Neutralität als auch nationale Sicherheit sind Rechtsgüter von überragender Bedeutung, deren Wahrung die Veröffentlichung des Minerva-Berichtes verlangt. Der Quellenschutz als Teil der grundrechtlich geschützten Pressefreiheit steht einer solchen Veröffentlichung allerdings grundsätzlich entgegen. Danach dürfen Journalisten nicht gezwungen werden, Informanten, Berichte, Recherchen oder andere Arten von Quellen preiszugeben. Der Quellenschutz gilt aber nicht absolut. Im Fall Crypto-Leaks rechtfertigt es das höherrangige Interesse der Wiederherstellung der Neutralität und der Wahrung der nationalen Sicherheit, den Minerva-Bericht zu veröffentlichen. Eine bedachte Abwägung der entgegengesetzten Interessen würde die Veröffentlichung des Minerva-Berichts allerdings insofern einschränken, als die InformantIn, die den Minerva-Bericht zugespielt hat, nicht preiszugeben wäre. Betrachten wir diese Lösung als gutschweizerischen Kompromiss – zur Wiederherstellung der gutschweizerischen Neutralität.
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