Die Neutralität ist dynamisch

Seit der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland 2022 dreht sich die Neutralitätsdebatte um zwei gegensätzliche Annahmen. Erstens, dass sich etwas Grundlegendes verändert hat. Zweitens, dass sich die «immerwährende» Neutralität aber nicht grundlegend ändern darf. Der Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass die Neutralität weder ein statisches noch ein binäres Konzept ist.

 

Als Bundesrat Ignazio Cassis nach Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland 2022 den Begriff der «Kooperativen Neutralität» ins Spiel brachte, stellte sich der Gesamtbundesrat gegen die konzeptionelle Weiterentwicklung der Neutralität. Er sah damals keinen Grund, die geltende Neutralitätspraxis von 1993 zu revidieren, welche bereits die Übernahme von Sanktionen erlaubt.

 

Wenige Wochen später lancierte der Verein Pro Schweiz jedoch eine Initiative, welche sich nicht nur gegen die Übernahme der aktuellen EU-Sanktionen richtet, sondern auch gegen die seit 1993 geltende Neutralitätspraxis. Der Initiativtext hält fest, dass die Neutralität immerwährend und bewaffnet sein soll. Der Beitritt zu Militär- und Verteidigungsbündnissen soll mit Ausnahme von direkten militärischen Angriffen auf die Schweiz verboten werden. Sanktionen gegen kriegführende Drittstaaten sollen verboten werden. Ausgenommen sind Sanktionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Im Gegenzug soll die Neutralität, mittels der Guten Diensten der Schweiz dazu dienen,  zwischen Kriegsparteien zu vermitteln. Den Initianten scheint jede Abweichung von den Haager Neutralitätskonventionen von 1907 zu weit zu gehen.

 

Diese Konventionen regeln jedoch das Verhalten temporär neutraler Staaten in Kriegssituationen an Land und auf See. Sie beziehen sich nicht explizit auf permanent neutrale Staaten wie die Schweiz und regeln auch nicht das Verhalten permanent neutraler Staaten in Friedenszeiten. Dies scheinen  die Verfasser/innen des sogenannten Manifest Neutralität 21 und die Mehrheit der Studienkommission Sicherheitspolitik des VBS erkannt zu haben. Ihre Empfehlungen widersprechen deshalb diametral jenen der Neutralitätsinitiative. Die Schweiz soll sich stärker für die Aufrechterhaltung der internationalen Rechtsordnung der UNO-Charta einsetzen. Anders als die Konventionen Der Haags von 1907 verbietet diese militärische Aggression. Die Autoren des Manifestes und des Studienberichtes empfehlen zudem mehrheitlich die Anpassung des Kriegsmaterialgesetzes sowie die Beibehaltung der Übernahme von UNO-Sanktionen. Das Manifest Neutralität 21 plädiert zudem dafür, «neben den Sanktionen der UNO und der wichtigsten Handelspartner auch eigene Massnahmen zu ergreifen».

 

Besonders der Bericht der Studienkommission wurde seit Ende August heftig kritisiert. Ihre Empfehlungen sollten jedoch alleine schon deswegen seriös diskutiert werden, weil es mehrere anerkannte Definitionen von Neutralität gibt. Gemäss einer weit verbreiteten Auffassung ist die Neutralität ein binäres Konzept. Man ist neutral, oder man ist es nicht. In der Praxis ist die Neutralität jedoch komplizierter. Sie bewegt sich auf einem Spektrum zwischen mehr und weniger Neutralität, je nachdem, wie stark ein Staat in einen laufenden Konflikt eingreift, wie sehr er die Konfliktparteien begünstigt oder benachteiligt und wie sehr dieses Verhalten den Ausgang eines Konfliktes beeinflusst.

 

Das Hauptproblem der Schweizer Neutralitätspraxis seit 1946 besteht darin, die Neutralität und die Solidarität der Schweiz auf diesem Spektrum zu balancieren. In jenem Jahr beschloss der Bundesrat, den Vereinten Nationen fernzubleiben, da der kollektive Sicherheitsmechanismus des UNO-Sicherheitsrates nicht mit der Neutralität vereinbar schien. 1947 formulierte Bundesrat Max Petitpierre die sogenannte Politik der «Neutralität und Solidarität,» die vorsah, dass die Schweiz nur Formen der bilateralen und multilateralen Kooperation eingehen würde, welche ihre Neutralität in einem Konflikt nicht beeinträchtigten. Damit rückten die humanitäre Tradition und die Guten Dienste der Schweiz in den Vordergrund.

 

Während des Kalten Krieges war die Bilanz der schweizerischen Guten Dienste jedoch erstens überschaubar und zweitens durchzogen. Erst Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre erhielten die Guten Dienste der Schweiz einen deutlichen Aufschwung. In diesen Jahren veränderte sich aber auch die Neutralitätspraxis der Schweiz. Im Jahr 1990 übernahm die Schweiz unilateral die Wirtschaftssanktionen des UNO-Sicherheitsrates gegen den Irak in Folge der irakischen Invasion Kuwaits. Im Jahr 1993 veröffentlichte der Bundesrat seinen ersten Neutralitätsbericht. Er hielt darin fest: «Die traditionelle Formel von Sicherheit durch Neutralität und Unabhängigkeit wird mehr und mehr ergänzt werden müssen durch diejenige von Sicherheit durch Kooperation.» Die Neutralitätsinitiative stört sich an genau diesem Ansatz. Er entspringt jedoch einer offensichtlichen Tatsache: Die Sicherheit anderer Staaten beeinflusst unsere Sicherheit. Dies gilt besonders für unsere europäischen Nachbarn.

 

Die Schweiz ist ein Kleinstaat und sicherheitspolitisch stark von ihrem Umfeld abhängig. Sie hat als Kleinstaat grosses Interesse an der Aufrechterhaltung der internationalen Völkerrechtsordnung gemäss der UNO-Charta und sollte sich dafür einsetzen, Verstösse gegen die geltende Rechtsordnung zusammen mit anderen Staaten zu sanktionieren. Wir brauchen keinen Verfassungsartikel, der unsere Neutralität einfriert. Wir brauchen eine Neutralitätsstrategie, die uns erlaubt, unsere Neutralitäts- und Sicherheitsansprüche von Fall zu Fall im Gleichgewicht zu halten. Unsere Neutralität erlaubt dies, denn sie ist dynamisch.