Die Schildbürger lancieren eine Initiative: Wie die SVP einen Vorrang von Landesrecht vor Völkerrecht herbeiführen will

Europa

Von Rafael Häcki – Die SVP stellt für den Nationalfeiertag am 1. August die Lancierung einer Initiative in Aussicht, die den Vorrang von Landesrecht vor Völkerrecht in der Bundesverfassung verankern will. Ein netter Schildbürgerstreich.

Seit der 1.-August-Rede 2007 des damaligen Justizministers Christoph Blocher steht die SVP im “dauernden Kampf um die Freiheit” gegen “so genanntes Völkerrecht”, dessen “Vögte” und “fremden Richter”. Ironischerweise feiert die Schweiz am 1. August den Bundesbrief von 1291 – einen völkerrechtlichen Vertrag der drei reichsunmittelbaren Talschaften Nidwalden, Uri und Schwyz.

Einerseits verschweigen die selbsternannten Bewahrer von Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz deren Entstehung durch Völkerrecht, als die Grossmächte im Wiener Kongress 1815 die inneren und äusseren Grenzen der Schweiz anerkannten (Art. 74 Kongressakte) und sie zur “immerwährenden Neutralität” verpflichteten (Anhang 11 zu Art. 118). Geflissentlich bleibt auch unerwähnt, dass das Neutralitätsrecht heute auf völkergewohnheitsrechtlicher Anerkennung und völkerrechtlichen Abkommen (Haager Konventionen 1907) basiert.

Andererseits passt es nicht in das von der SVP gezeichnete Bild, dass völkerrechtliche Verträge vor Inkraftsetzung im Auftrag des Bundesrates unterzeichnet, sodann durch die Bundesversammlung (Art. 166 Abs. 2 BV) oder das sakrosankte Stimmvolk (Art. 140 Abs. 1 Bst. b / Art. 141 Abs. 1 Bst. d BV) genehmigt und schliesslich ratifiziert werden. Völkerrecht ist Schweizer Recht.

Aussenverhältnis: Völkerrechtliche Pflicht zur Vertragstreue

Gerne übersehen wird auch das wichtigste Argument in der Diskussion um das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht: Der Vorrang des Völkerrechts ergibt sich logischerweise aus dem Völkerrecht selbst.

Unter Privaten dürfte das allen einleuchten: Schliesst Toni Brunner mit der Molkerei Stalder in Ebnat-Kappel einen Milchliefervertrag ab, so verpflichtet ihn dies. Liefert er seine Milch plötzlich nicht mehr ab, so kann er von der Molkerei verantwortlich gemacht werden (Schadenersatz). Dem kann er sich nicht entziehen, weil sein Mami beim Bendler-Jass mit dem Molkerei-Erwin gestritten hat und nicht mehr will, dass Toni die Milch dort abliefert.

Analoges gilt auf der zwischenstaatlichen Ebene, wo die Schweiz gemäss dem Grundsatz der Vertragstreue an die von ihr ratifizierten Verträge gebunden ist und diese nach Treu und Glauben erfüllen muss (Art. 26 VRK). Jede Verletzung dieser völkerrechtlichen Pflicht begründet eine völkerrechtliche Verantwortlichkeit gegenüber den betroffenen Staaten: Primär ist der völkerrechtskonforme Zustand wiederherzustellen, alternativ Schadenersatz oder Genugtuung zu leisten. Insbesondere kann sich die Schweiz nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen (Art. 27 VRK).

Aussenverhältnis: Prinzipieller Vorrang des Völkerrechts

Demnach ergibt sich aus dem Geltungsanspruch des Völkerrechts selbst ein prinzipieller Vorrang des Völkerrechts vor Landesrecht im Aussenverhältnis. An diesem Vorrang könnte die von der SVP anvisierte Verfassungsbestimmung, “die festlegt, dass sowohl unsere Verfassung wie auch Schweizer Gesetze in jedem Fall über den Bestimmungen des Völkerrechts stehen”, nichts ändern. Unabhängig, ob Toni Brunner nun familienintern seiner Mutter das letzte Wort zugesteht oder nicht – seinen Vertragspartnern gegenüber muss er die abgeschlossenen Verträge erfüllen.

Will eine (völker-)rechtswidrig handelnde Vertragspartei ihre Verpflichtungen nicht länger einhalten, so muss sie den (Staats-)Vertrag kündigen (oder suspendieren). Da bisher aber sämtliche Bestrebungen der SVP zur Kündigung von EMRK und Bilateralen erfolglos geblieben sind, soll nun die geplante Verfassungsnorm diese durch die Hintertür ausser Kraft setzen.

Innerstaatliche Wirksamkeit: Nationale Regelung

Davon wäre aber einzig die Wirksamkeit von Völkerrecht auf innerstaatlicher Ebene betroffen. Dazu macht das Völkerrecht selbst keine Vorgaben. So ist jeder Staat frei, im Landesrecht anhand der drei Elemente Geltung, Anwendbarkeit und Rang von Völkerrecht zu regeln, wie er seine völkerrechtlichen Verpflichtungen erfüllt – nur erfüllen muss er sie.

Folgerichtig gewähren Schweizer Verfassungs-/Gesetzgeber, Rechtsprechung und Lehre dem Völkerrecht auch innerstaatlich einen (Anwendungs-)Vorrang vor Landesrecht. Im Konfliktfall geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung dem widersprechenden Landesrecht vor (vgl. BGE 139 I 16 E. 5.1).

Innerstaatlicher Vorrang von Landesrecht?

Diesen innerstaatlichen Anwendungsvorrang will die SVP-Initiative nun umstürzen. Aber eben: Die innerstaatliche Missachtung von Völkerrecht ändert nichts an der Verantwortlichkeit der Schweiz nach aussen – insbesondere der Pflicht zur Wiederherstellung des völkerrechtskonformen Zustandes.

In diesem Sinne bestimmt etwa das unter Justizminister Blocher erlassene Bundesgerichtsgesetz, dass nach einer Strassburger Verurteilung wegen Verletzung der EMRK das Bundesgericht das betreffende Urteil revidiert (Art. 122 BGG). Zurück auf Feld eins.

Natürlich weiss das auch die SVP. Wahrheit war aber noch nie entscheidender Bestandteil von Propaganda. Doch das Stimmvolk sollte nicht dem Beispiel der ursprünglich sehr fleissigen und klugen Schildbürger folgen: Diese stellten sich bloss dumm, um glücklich zu werden, wurden dadurch aber dumm und gerieten ins Unglück.

Rafael Häcki ist Jurist und Eigentümer eines von Toni Brunner handsignierten SVP-Parteiprogrammes 2011-2015. Er ist Gast des foraus-Blogs.

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