Von Viviane Leupin und Stefan Schlegel – Die Angst vor Zuwanderung hat ein Eigenleben entwickelt, das nicht mehr von Fakten beeinflusst wird und sich darum ausgezeichnet für den Wahlkampf eignet. Das hat auch die Sonderdebatte zu Nordafrika im Nationalrat vergangene Woche gezeigt. Dabei böten die Umwälzungen in Nordafrika Anlass, in der Migrationspolitik einen Schritt weiter zu denken.
Seit der Warnung des italienischen Innenministers Franco Frattini, die Umstürze in Nordafrika führten zu einem „Exodus biblischen Ausmasses“, diskutiert auch die Schweiz fast obsessiv über eine Flüchtlinswelle. Dabei sind die einzigen Anhaltspunkte, dass es zu einer solchen Welle kommen könnte bis jetzt die Aussagen von Politiker, deren politisches Kapital darin besteht, dass ihre Wähler Angst vor Flüchtlingswellen haben. Das gilt für den Italienischen Innenminister ebenso wie für die Wortführer der Debatte in der Schweiz. Als Resonanzverstärker dienen diesen Politikern bereitwillig die Medien, denen dramatische Umwälzungen besser in der Hand liegen als komplexe, sich langsam und widersprüchlich entwickelnde Ereignisse. So haben die Lokalredaktoren des Tages Anzeigers für ihre Leser fürsorglich Statistiken extrapoliert, um vorzurechnen, um wieviel die Kriminalität im Kanton Zürich steigt, wenn die Welle anrollt. Bisher war das der journalistische Tiefpunkt der Debatte.
Die Vorstellung einer Lawine ist fast immer falsch
Im Februar sind von Ägyptern 13 Asylgesuche gestellt worden, wovon 5 bereits erledigt sind, von Tunesiern 41, wovon 38 bereits erledigt sind und von Libyern 3 (Quelle: Statistik BfM). Selbst bei pessimistischen Prognosen für die Zukunft ist eine Flüchtlings-Flut ein Szenario, das mit der Realität nichts zu tun hat.
Werden diese Zahlen verglichen mit der sehr grossen Zahl von Flüchtlingen, die der Krieg in Libyen dazu bewogen hat, das Land Richtung Ägypten, Tunesien oder in den Niger zu verlassen (es sind nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration IOM inzwischen mehr als 345000, von denen 200000 selber nicht Libyer sind), so zeigt sich, dass Europa längst nicht mehr das einzige oder auch nicht das attraktivste Ziel für Arbeitsmigranten ist und dass die Migration oft die Richtung ändert. Zwar hat nun die Zahl der Ankömmlinge auf Lampedusa zugenommen. Aber Lampedusa ist ein Nadelöhr, wo auch verhältnismässig kleine Bewegungen extreme Auswirkungen haben. Dass auf der kleinen Insel der Eindruck einer Lawine entsteht, ändert nichts daran, dass die Vorstellung einer lawinenartigen Migration fast immer falsch ist.
Aber das ist nicht entscheidend. Das Bild funktioniert intuitiv und kein Thema lässt sich besser mit einer nervösen Debatte auf dem Sorgenbaromenter nach oben drücken.
So trieb denn auch die Sonderdebatte im Nationalrat am 16. März seltsame Blüten: Hans Fehr (SVP) geht davon aus, dass die Umwälzungen in den nordafrikanischen Länder weder als politische, noch als demokratische Revolution zu betrachten sind, sondern als Wohlstandsrevolution. „Menschen, die keine Arbeit oder fehlende Perspektiven haben, fallen nicht unter das Asylgesetz!“, so Fehr. Wie Maja Ingold (EVP) darauf hin meinte, habe hier die SVP, die Künstlerin der Abänderung von Definitionen wieder einmal zugeschlagen. In der Tat. Jeder Konflikt hat (unter anderem) wirtschaftliche Ursachen. Deswegen kann er trotzdem zu echter Verfolgung führen und damit auch zu echten Flüchtlingen.
Verdrehen und verengen
Philipp Müller (FDP) wählt nicht die Strategie, den Flüchtlingsbegriff zu verdrehen (wie Hans Fehr), sondern ihn zu verengen. „Wir sind gefordert, unser nostalgisches Flüchtlingsbild über Bord zu werfen. Wir sind gefordert, den heutigen Fluchtbewegungen mit aktualisierten Asylstrukturen und einer modernen Asylgesetzgebung gerecht zu werden.“ Was kann er damit gemeint haben? Dass unser Flüchtlingsbegriff den heutigen Konfliktstrukturen angepasst werden soll? Dass wir Lösungen brauchen für Menschen, die vor Bandenkriegen, Rebellenbewegungen, Sippenstrukturen, Zwangsheiraten, organisierter Kriminalität oder dem Klimawandel fliehen, statt von einer kommunistischen Geheimpolizei, wie unser nostalgisches Flüchtlingsbild immer noch meint? Wohl kaum. Schade, wechselte Philipp Müller das Thema, vom Asylbegriff zu den Asylstrukturen, bevor klar wurde, was er gemeint hat.
Eine unnötige Debatte an der Stelle einer notwendigen
In der lärmigen Debatte ging unter, dass die wirklich interessanten Fragen betreffend der möglichen Migration aus Nordafrika nichts mit Asylrecht zu tun haben. Denn was nicht zur Diskussion steht, ist, ob Menschen in der Schweiz aufgenommen werden können, die hier um Asyl nachsuchen.
Das steht bereits im Asylgesetz und in der Genfer Flüchtlingskonvention.
Erfüllen sie die Flüchtlingseigenschaften, so müssen die Migrantinnen und Migranten aus Nordafrika aufgenommen werden. Erfüllen sie die Flüchtlingseigenschaft jedoch nicht, so gibt es keine rechtliche Möglichkeit, sie in der Schweiz aufzunehmen.
Genau, an diesem Punkt wäre die Debatte nun spannend geworden. Angenommen, wir würden diese jungen, in der Regel gut ausgebildeten Menschen mit Französisch- und Englischkentnissen brauchen können? Wäre es nicht ärgerlich, ihnen keine Arbeit geben zu dürfen, weil die Politik den Entscheid gefällt hat, dass Arbeitsmigranten aus der EU kommen müssen? Was ist – wie dies bereits absehbar ist – wenn in der EU die Arbeitskräfte nicht mehr zu finden sind, die der Werkplatz Schweiz braucht? Der Zeitpunkt wäre geeignet, über eine Liberalisierung unserer Ausländerpolitik für Arbeitsmigration zu diskutieren – zum Beispiel gegenüber Nordafrika. Das Mittelmeer müsste ja nicht notwendig eine kulturelle Barriere sein und eine oft tödliche Falle für verzweifelte Flüchtlinge. Es könnte auch Mittelpunkt und Drehscheibe eines Wirtschaftsraumes sein, wie es in der Antike bereits war; ein Wirtschaftsraum in dem sich Demokratie allmählich als die einzige akzeptierte Regierungsform durchsetzt. Arbeitsmigranten und Migrantinnen könnten die dafür notwendigen wirtschaftlichen und kulturellen Brücken bauen.
Aber die Menschen bauen mehr Mauern als Brücken.
Viviane Leupin hat in Fribourg ein Studium in european studies absolviert. Sie arbeitet momentan als Praktikantin auf der foraus-Geschäftsstelle.
Stefan Schlegel doktoriert an der Uni Bern im Bereich Migrationsrecht. Er leitet die Arbeitsgruppe Migration von foraus.
Der foraus-Blog ist ein Forum, das sowohl den foraus-Mitgliedern als auch Gastautoren/innen zur Verfügung gestellt wird. Die hier veröffentlichten Beiträge sind persönliche Stellungnahmen der Autoren/innen. Sie entsprechen nicht zwingend der Meinung der Redaktion oder des Vereins foraus.