Trotz Kritik an der UNRWA gibt es für die Schweiz keine Alternative als die Organisation weiterhin finanziell zu unterstützen. Einerseits, weil die UNRWA für Millionen von Palästinenser:innen nicht nur in Gaza, sondern auch in der weiteren MENA-Region eine lebenswichtige Rolle spielt. Anderseits, weil die Schweiz mit einer Kürzung der Hilfsgelder ihrem humanitären Ruf nicht gerecht werden kann.
Der Bundesrat hat am 8. Mai 2024 beschlossen, 10 Millionen Franken für die diesjährige Finanzierung des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinageflüchtete im Nahen Osten (UNRWA) freizugeben. Dieser Betrag entspricht der Hälfte der bisherigen jährlichen Unterstützung der Schweiz und ist ausschliesslich für humanitäre Hilfe in Gaza bestimmt. Für die Freigabe braucht es aber noch die Zustimmung der Aussenpolitischen Kommissionen (APK) des Parlaments, die Mitte Juni erfolgen
könnte. Über die zusätzlichen 10 Millionen Franken wird im Laufe des Jahres entschieden. Grund für den langwierigen Prozess ist die Kritik an der mangelnden Neutralität der UNRWA, die seit dem 7. Oktober stark zugenommen hat.
Im Januar beschuldigte Israel Mitarbeitende der UNRWA am Angriff der Hammas beteiligt gewesen zu sein. Die meisten Geberländer stellten daraufhin ihre finanzielle Unterstützung vorzeitig ein, haben sie aber inzwischen wieder aufgenommen. Die Schweiz hat bis jetzt ihren Beitrag für 2024 aber noch nicht überwiesen.
Zwei Argumente sprechen dafür, dass die Schweiz ihren Anteil nicht nur so schnell wie möglich überweist, sondern wieder auf 20 Millionen Franken aufstockt. Dabei steht die Existenz dieser für die Palästinenser:innen überlebenswichtigen Institution, nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland, in Syrien, im Libanon und in Jordanien auf dem Spiel.
Es geht nicht ohne die UNRWA
Der erste Grund liegt in der Alternativlosigkeit der UNRWA. Die Organisation wurde 1949 als UNO-Organ gegründet, um die Hilfe für die grosse Zahl von Palästinageflüchteten zu koordinieren. Seither nimmt die Organisation quasi-staatlichen Aufgaben für die palästinensische Bevölkerung wahr, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur. In dieser essenziellen Rolle wird die UNRWA seit ihrer Gründung von der Schweiz als strategische Partnerin unterstützt. Seit Kriegsbeginn fungieren die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und die UNRWA als die einzigen Akteure auf palästinensischer Seite, die – bis zu einem gewissen Grad – unabhängig von Israel agieren können. Da sich die PA bereits vor dem 7. Oktober in einem Zustand der Lähmung befand, ist die Notwendigkeit der UNRWA seitdem umso grösser geworden. Angesichts der aktuellen humanitären Katastrophe in Gaza ist es undenkbar, dass eine andere Institution die Kernaufgaben der UNRWA übernehmen könnte.
Die Neutralität der UNRWA wurde jedoch durch Israels Anschuldigungen im Januar auf eine harte Probe gestellt: Mindestens zwölf UNRWA-Angestellte sollen sich unter den Angreifenden des 7. Oktobers befinden. Diese Vorwürfe sind ernst zu nehmen und werden derzeit zu Recht gründlich untersucht. Parallel macht der von der UNO beauftragte Colonna-Bericht zur Neutralität rund 50 Vorschläge zur Verbesserung der UNRWA-Strukturen. Unter dem Strich bestätigt der Bericht jedoch, dass die UNRWA genügend zur Gewährleistung des Neutralitätsprinzips unternimmt – zum Teil weit mehr als andere UNO-Organisationen und NGOs. Die vorläufige Untersuchung bekräftigt zudem, dass die UNRWA im aktuellen Kontext des Gazakriegs eine «unersetzliche und unerlässliche» Akteurin ist.
Trotz dieser Schlussfolgerungen, kam in Bern die Forderung auf, die Schweiz solle ihre UNRWA-Beiträge an andere humanitäre Organisationen wie zum Beispiel das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) überweisen. Doch gerade im Gazastreifen, wo Hilfe am nötigsten wäre, haben diese Organisationen vor Ort kaum Handlungsspielraum zur Verfügung, weil diese nur unter Vermittlung des israelischen Militärs arbeiten können. Seit Beginn des Krieges werden ausreichende Hilfslieferungen nach Gaza von israelischer Seite immer wieder verzögert oder gar blockiert.
Ein unantastbares Prinzip der Schweiz
Der zweite Grund liegt in der humanitären Tradition der Schweiz. Bei humanitären Katastrophen und Konflikten verpflichtet sich die Schweiz zu sofortiger Hilfe. Auch nach dem 7. Oktober anerkennt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) weiterhin die Schlüsselrolle der UNRWA als «strategische Partnerin».
Die Entscheidung hängt letztlich von den APKs ab, die noch vor der Sommerpause die Freigabe der Hilfsgelder beschliessen könnten. Dafür müssen aber die politischen Differenzen überwunden werden, doch die Zeit drängt. Auch wenn sich die UNRWA mittelfristig nicht einem Reformprozess entziehen kann, kommen die politischen Diskussionen in den APKs zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
Im Juni 2024 wird die Schweiz bei der Bürgerstock-Konferenz die Möglichkeit haben, ihr Image im humanitären Bereich zu stärken. Bezüglich der MENA-Region arbeitet das EDA aktuell an einer Strategie, welche die Grundsätze für den humanitären Weg der Schweiz ab 2025 festlegt. Vor dem Hintergrund dieser beiden Ziele ist für die humanitäre Schweiz eine Kürzung lebenswichtiger Hilfsgelder für die UNRWA schwer vertretbar. Bei der Freigabe der UNRWA-Hilfe steht für die Schweiz also die Frage auf dem Spiel, in welcher Rolle – und ob überhaupt – sie als humanitäre Akteurin auf internationaler Ebene auftreten will.