Von Andrea Jud – Trotz schockierender Gewalt in Syrien bleibt die öffentliche Meinung in der
Schweiz genauso gespalten wie die internationale Politik. Stimmt etwas mit unserem moralischen Kompass nicht?
Seit einem Jahr stemmt sich das syrische Regime mit Gewalt gegen Forderungen nach politischer Veränderung. Dabei haben nach UNO-Schätzungen über 7500 Leute ihr Leben verloren und gravierende Menschenrechtsverletzungen wurden begangen. Als sich Bundesrat Didier Burkhalter letzte Woche vor dem UN Menschenrechtsrat zur Situation in Syrien äusserte, blieb er bei den üblichen Formulierungen: Menschenrechtsverletzungen werden „scharf verurteilt“, die Wichtigkeit „humanitärer Hilfe“ betont und gleichzeitig die Suche nach einer „politischen Lösung“ gefordert. Damit nimmt die Schweiz Forderungen verschiedener, untereinander konkurrierender internationaler Grossmächte auf und übt sich in der Sprache des Konsenes, wo keiner besteht.
Kalter Krieg im Sicherheitsrat
In der internationalen Politik zeigen sich tiefe Gräben bezüglich des Umgangs mit Syrien. Der von europäischen und arabischen Staaten sowie von den USA unterstützte Vorstoss für eine rechtlich bindende Resolution wurde durch das Veto Russlands und Chinas blockiert. Ermutigt durch die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft, trieb der syrische Staat die Gewalt gegen die Protestbewegung zu einem neuen traurigen Höhepunkt: Die Stadt Homs wurde abgeriegelt, tagelang bombardiert und anschliessend von Panzereinheiten gestürmt. Die von der Zerstörung am meisten betroffenen Stadtteile wurden danach von Hilfeleistungen des IKRKs abgeschnitten.
Meinungskrieg in der Schweiz
Wer einen Blick etwa in russische Medien wirft, ist von der Blockade im Sicherheitsrat kaum überrascht. Dabei unterscheiden sich nicht nur die Meinungen, wie mit der Situation umzugehen ist. Schon die Darstellung der Ereignisse, ihre Einschätzung und die Frage, wer die Schuld an ihnen trage, ist gegensätzlich. Diese Meinungsdifferenzen zeigen sich nicht nur zwischen Grossmächten, die ihre eigenen Interessen im Nahen Osten vertreten, sondern reichen bis in die Schweizer Öffentlichkeit. Von der Expertenmeinung zum Leserkommentar, überall zeigen sich so unterschiedliche und umstrittene Positionen, dass man von einem regelrechten Meinungskrieg sprechen kann. Dabei tauchen nicht selten Argumente aus der Propaganda der syrischen Diktatur auf. Noch nie war ich mit der Meinung so vieler Kollegen so wenig einverstanden.
Informationen gibt es genug
Liegt die grosse Verwirrung daran, dass es zu wenige Informationen zu den Ereignissen in Syrien gibt? Obwohl die freie Arbeit internationaler Medienanstalten durch die syrische Regierung verunmöglicht wird, schmuggeln sich Journalisten ins Land und berichten. Daneben erreichen uns Hunderte von Amateurvideos, Fotos und Berichte von Menschen vor Ort. Sie zeigen massive Gewalt des syrischen Staates gegen Zivilisten, ganze Wohnviertel und Städte und bilden allein schon Grund genug, das Vorgehen des Assad Regimes zu verurteilen. Wer mit diesen Informationen nicht übereinstimmt, beruft sich darauf, „dass alles ganz anders ist, als es scheint“ und erklärt dies mit mehr oder weniger wilden Verschwörungstheorien. Die Verwirrung zeigt, dass blosses Sammeln von Informationen für ein Verständnis der Situation in Syrien nicht reicht. Wir müssen uns mit unserer Sichtweisen auf die Welt und den Grenzen unserer Erklärungsmuster auseinander setzen.
Das Chaos überkommener Ordnungsvorstellungen
Warum ist es so schwer, die Informationen aus Syrien einzuordnen? Hat al-Assads Diktatur mit ihrer Zensur und Propaganda auch in unseren Köpfen Erfolg? Oder ist die Verwirrung eine Folge der Weltbilder, in welche die Ereignisse eingeordnet werden? Welche Logik steckt hinter unseren Erklärungsmustern? Die revolutionären Bewegungen in der arabischen Welt – und ganz besonders in Syrien – stellen nicht nur die Machtverhältnisse in ihren Ländern in Frage, sondern auch unsere eigenen Verständnismuster. Offenbaren sie auch unsere moralische Orientierungslosigkeit?
Andrea Jud, M.A., ist Politikwissenschaftlerin und Islamwissenschaftlerin und lebte 6 Monate in Syrien. Sie ist Mitglied bei foraus in der AG Menschenrechte, AG Entwicklung und Zusammenarbeit und AG Migration.
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