Am 1. April 2018 tritt in der Schweiz das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in Kraft. Dies stellt einen wichtigen Schritt in der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt dar – ein Kampf der hierzulande bitter nötig ist!
Häusliche Gewalt: Privatsache?
Im Jahr 2016 starb in der Schweiz durchschnittlich alle 20 Tage eine Person wegen häuslicher Gewalt. Mit den Opfern haben wir zwar Mitleid, das geschehene Unrecht wird jedoch meist als privates Problem der betroffenen Paare und Familien wahrgenommen. Dabei verkennen wir, dass diese Art von Gewalt angesicht ihrer Häufigkeit und Folgen ein gesellschaftliches Problem darstellt, dessen Bekämpfung dringend auch hierzulande als öffentliche Aufgabe anerkannt werden muss. Seit 2009 analysiert das Bundesamt für Statistik (BFS) die Daten der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zu häuslicher Gewalt vertieft und stellt der Öffentlichkeit detaillierte statistische Informationen zu den polizeilich registrierten Straftaten sowie den geschädigten und beschuldigten Personen zur Verfügung. Interessant sind insbesondere die Daten zu den Tötungsdelikten, welche sich im häuslichen Bereich ereignen. Diese sind zwar in der Schweiz wie auch in ganz Westeuropa rückläufig, auffällig ist jedoch, dass hierzulande im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern überdurchschnittlich viele Opfer der begangenen Tötungsdelikte mit dem Täter bzw. der Täterin in einem häuslichen Verhältnis stehen. So wurden 2009 bis 2016 in der Schweiz 34% Tötungsdelikte im häuslichen Bereich begangen, während dies europaweit bei lediglich 28% der vollendeten Tötungsdelikte der Fall ist.
Häusliche Gewalt: geschlechtsspezifisch?
Ein Blick in die Statistik der Jahre 2009 bis 2016 zeigt, dass die Opfer von häuslicher Gewalt zu einer grossen Mehrheit weiblich (70%) und die Tatverdächtigen vorwiegend männlich (75%) sind. Besonders deutlich ist dies bei den vollendeten Tötungsdelikten. So starben in der Schweiz im Jahr 2016 18 Frauen und nur ein Mann aufgrund häuslicher Gewalt. Wird eine Person von ihrem (ehemaligen) Partner oder ihrer (ehemaligen) Partnerin getötet, so wird in der Öffentlichkeit meist von einem «Beziehungsdelikt» gesprochen. Dieses Wort suggeriert die Mitverantwortung des Opfers (zu einem Streit gehören bekanntlich immer zwei) und ignoriert die überproportionale Betroffenheit der Frauen. Bei den Beratungen zur Istanbul-Konvention, die 2009 bis 2011 von einer Arbeitsgruppe des Europarats ausgearbeitet wurde, war die grundsätzliche Ausrichtung der Vereinbarung auf die geschlechterspezifische Gewalt sehr umstritten. Während einige Länder wollten, dass die Frauen aufgrund ihrer überproportionalen Betroffenheit im Fokus der Konvention stehen, sprachen sich andere dafür aus, den Schwerpunkt auf die Häuslichkeit im Sinne eines sozialen Nahraums, welcher auch Männer und Kinder einschliesst, zu legen. Der Titel der Konvention stellt vordergründig einen Kompromiss dar, da er sowohl von der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wie auch von häuslicher Gewalt spricht. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch klar, dass der Schwerpunkt der Vereinbarung auf der geschlechtsspezifischen Gewalt liegt. So besagt Artikel 2 Absatz 1 der Konvention: «Dieses Übereinkommen findet Anwendung auf alle Formen von Gewalt gegen Frauen, einschlisslich der häuslichen Gewalt, die Frauen unverhältnismässig stark betrifft.»
Mit dieser Formulierung anerkennen die unterzeichnenden Staaten ausdrücklich, dass es sich bei der häuslichen Gewalt um ein geschlechtsspezifisches Problem handelt. Auch wenn die Ausrichtung der Konvention grundsätzlich sehr zu begrüssen ist, kritisieren LGBTQ-Organisationen zu recht, dass die Konvention auf einem binären Geschlechterverständnis beruht. Somit werden andere vulnerable Gruppen, wie intergeschlechtliche Menschen, Transmänner oder homosexuelle Männer, welche ebenfalls überproportional von Gewalt betroffen sind, ignoriert.
Häusliche Gewalt: Menschenrechtsverletzung?
Eine weitere Errungenschaft der Istanbul-Konvention besteht darin, dass Staaten erstmals in einer verbindlichen Bestimmung einer Vereinbarung festhalten, dass der Begriff «Gewalt gegen Frauen» als eine Menschenrechtsverletzung und eine Form der Diskriminierung der Frau verstanden wird. Dies ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Einerseits wird durch die Anerkennung der Delikte als Menschenrechtsverletzung eine Schutzpflicht der Staaten anerkannt. Somit wird festgehalten, dass häusliche Gewalt gerade nicht Privatsache der Betroffenen ist, sondern die Staaten aktive Massnahmen ergreifen müssen, um ihre Bevölkerung davor zu schützen. Andererseits wird die Gewalt gegen Frauen als Form der Diskriminierung anerkannt. Auch die Verknüpfung von Gewalt und Diskriminierung verpflichtet die unterzeichnenden Staaten, der Diskriminierung bzw. der Gewalt aktiv entgegen zu wirken. Somit begründet die Konvention Schutz- und Gewährleistungspflichten, welche über die allgemeinen menschenrechtlichen Schutzpflichten hinausgehen und insbesondere die Verfolgung und Bestrafung von Straftaten, Entschädigung von Opfern, Präventionsarbeit sowie Forschung und Datenerhebung beinhaltet.
Die Schweiz braucht eine effektive und koordinierte Strategie!
In der Schweiz wurden in den letzten Jahren einige wichtige Massnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt ergriffen. Nennenswert sind insbesondere die Einführung der expliziten Strafbarkeit von Zwangsehen sowie der weiblichen Genitalverstümmelung. Am 11. Oktober vergangenen Jahres verabschiedete der Bundesrat zudem die Botschaft zum Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen, in welcher er eine Reihe von Gesetzesänderungen zum besseren Schutz der Opfer von Stalking und häuslicher Gewal vorschlägt. Die Schaffung und Verbesserung gesetzlicher Grundlagen ist ohne Zweifel wichtig für den Opferschutz. Gesetze alleine verändern die Welt jedoch nicht. Das Deutsche Institut für Menschenrechte schlug vor, dass in Deutschland auf Bundes- und Länderebene durch Aktionspläne eine effektive und koordinierte Strategie zur Prävention und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt entwickelt werden solle. Die Statistiken zur häuslichen Gewalt in der Schweiz zeigen klar, dass auch hierzulande eine koordinierte Strategie sinnvoll und notwendig wäre. Einen wichtigen Beitrag dazu leisten können Nichtregierungsorganisationen und Fachstellen, denen die Istanbul-Konvention eine zentrale Rolle in der Umsetzung und im Monitoring zuschreibt. So wird in der Schweiz aktuell ein zivilgesellschaftliches Netzwerk aufgebaut, welches gemeinsam agieren möchte und auf der Platform istanbulkonvention.ch über die Konvention und deren Umsetzung in der Schweiz informiert. Mit der Ratifizierung der Istanbul-Konvention wurde ein wichtiger Meilenstein in der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gelegt. Jetzt gilt es das Abkommen durch effektive und koordinierte Massnahmen umzusetzen!