Islamisches Recht und die Leiden der Männer

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Islamisches Recht oder Scharia kennt man in der Schweiz vor allem im Zusammenhang mit IS, Boko Haram und den Taliban. Abgesehen davon, steht immer wieder das islamische Familienrecht aufgrund seiner Diskriminierung gegenüber Frauen in der Kritik. Doch gerade das Familienrecht hat eine finanzielle Schattenseite für die Männer.  

 

Frauen sind in den meisten islamischen Ländern schwerwiegenden rechtlichen und finanziellen Restriktionen unterworfen, etwa wenn es um die Auflösung der Ehe geht (mit Ausnahme Tunesiens, der Türkei und Marokko). So ist es Frauen nur mit Einwilligung des Gatten und mithilfe einer finanziellen Wiedergutmachung desselben möglich, die Scheidung zu erhalten. Oder aber sie sind in der Lage, ein gravierendes Fehlverhalten des Partners nachzuweisen. Hierbei gestaltet sich jedoch die Beweisführung routinemässig dermassen schwierig, dass Prozesse sich über Jahre – sogar Jahrzehnte – hinziehen können. Scheidung stellt für Frauen also ein Unterfangen dar, welches einen hohen Grad an strategischem Geschick verlangt, etwa einen klauselreichen Heiratsvertrag. Daneben besteht eine besonders beliebte – mitunter die einzig aussichtsreiche – Strategie darin, vom Gatten höheren Unterhalt zu verlangen und so auf die Scheidung hinzuwirken.

Nicht nur die Rechte, auch die Pflichten

Doch die Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses betrifft nicht nur die Rechte, sondern auch die Pflichten. Diese bestehen für den Gatten in erster Linie darin, den Unterhalt für seine Gattin und die Kinder zu garantieren, auch wenn diese wohlhabender ist als er. Wenn der Mann seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann, wird diese nicht der Gattin übertragen, sondern der Herr kommt mitunter ins Gefängnis (so zum Beispiel in Marokko).

Um diesem Schicksal zu entgehen, strengte einer meiner Interviewpartner in Rabat bereits die zweite Revision seines Scheidungsverfahrens an. Der einfache Staatsbeamte muss für seine unverheiratete Schwester und seine verwitwete, kranke Mutter aufkommen. Er sah sich daher ausser Stande, auch den zahlreichen Zahlungen an seine ehemalige Gattin und das gemeinsame Kind nachzukommen. Er befürchtete das Schlimmste.

Ein weiterer junger Mann wollte sich nach wenigen Monaten der Ehe scheiden lassen, weil die Familie seiner Frau – mit welcher er bereits vor der Heirat eine dreijährige Beziehung führte – finanzielle Anforderungen an ihn stellte, denen er sich nicht gewachsen sah. Durch eine rasche Scheidung hoffte er, zumindest der Zahlung einer hohen finanziellen Abfertigung für die Auflösung der Ehe zu entgehen.

Soziale Entmündigung aufgrund finanziellen Versagens

Aus den vielfältigen finanziellen Anforderungen und der hohen (Jugend)Arbeitslosigkeit im Nahen Osten und Nordafrika resultiert eine weitreichende Entmündigung beziehungsweise Ausschluss junger Männer aus dem sozialen Leben, da sie nicht in der Lage sind, ihren finanziellen Pflichten nachzukommen. Insbesondere können viele in der Folge nicht heiraten. Derselben Logik folgend verpassen gegenwärtig besonders viele syrische Flüchtlingsbuben im Exil (Jordanien, Libanon, Irak und Ägypten) ihre Schulbildung, weil sie für ihre Familie Geld verdienen müssen. Auch ohne bewaffneten Konflikt und Exil – wobei das inzwischen ein weitverbreiteter Zustand in der Region ist – sind heranwachsende Söhne rechtlich gesehen das schwächste Glied in der Alimente-Kette und noch vor der Mutter, Schwestern und kleineren Geschwistern auf sich alleine gestellt.

Das ist auch Scharia, nur weniger in den Schlagzeilen.