«Lasst uns mutig und visionär sein – so wie damals!»

Europa

Am 12. September 1848 trat die erste Bundesverfassung in Kraft – der Gründungsmoment des modernen Schweizerischen Bundesstaats. Im Rahmen der Jubiläumsfeierlichkeiten des Vereins 12. September hielt foraus-Geschäftsführerin Emilia Pasquier folgende Rede.

 

Ein loser Staatenbund, zusammengehalten lediglich von einer Vielzahl einzelner Verträge – ein ineffizientes und schwerfälliges System. Keine einheitliche Rechtsgrundlage. Niemand geht gerne zu den gemeinsamen Sitzungen. Die einen hängen an der Idee eines übergeordneten Systems, die anderen möchten den Staatenbund am liebsten sofort verlassen. Jeder ist nur auf seine eigenen Vorteile bedacht; Streit und Eigenbrötlertum sind an der politischen Tagesordnung. Einig sind sich alle einzig darin, dass das System nichts taugt. Was fehlt, ist eine gemeinsame Vision. 1847 kommt zum Krieg – liberale und konservative Kantone tragen ihre Unstimmigkeiten mit Waffengewalt aus.

Dass Eigenbrötlertum der falsche Weg sei, hatte bereits 200 Jahre zuvor Johann Rudolf Wettstein gewarnt. Der Diplomat, der die alte Eidgenossenschaft 1647 bei den Verhandlungen zum Westfälischen Frieden vertrat, soll geschrieben haben: «Es genügt nicht, die Hände in den Schoss zu legen; man muss sich in fremde Händel mischen und des Nachbars Haus löschen helfen, um das seine zu erhalten.» Was machten wir Schweizer? Immerhin, wir besannen uns recht schnell. Nach 25 Kriegstagen und 150 Toten passierte etwas mutiges – man könnte sogar sagen, etwas visionäres: die Staaten rauften sich zusammen, dachten sich neu und konstituierten sich als Bundesstaat. In der gemeinsamen Verfassung wurden die Ideen der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und Freiheitsrechte verankert. Die kantonalen Zölle wurden aufgehoben, die Aussenzölle wurden vereinheitlicht und damit zur Haupteinnahmequelle des Bundes. Grundsteine für eine prosperierende Schweiz wurden gelegt. Die Bundesverfassung wurde zur Zauberformel für einen Frieden innerhalb der Schweiz, der bis heute andauert.

Gleichzeitig ist es auch der Startpunkt einer einheitlichen, kohärenten Schweizer Aussenpolitik. Es wird ein Aussen-Departement geschaffen; nach und nach entsteht ein weltumspannendes Netz aus Botschaften: Die Aussenbeziehungen werden institutionalisiert und die vormals fragmentierte Eidgenossenschaft wird zu einem anerkannten Akteur in Europa und der Welt. Und noch etwas wurde erreicht: Die Kantone verloren zwar ihre eigene Autonomie gegenüber den «fremden, ausländischen» Mächten – sie bewahrten sich aber gemeinsam ihre Unabhängigkeit, weil sie nach innen zusammenspannten. War das Schweizer Eigenbrödlertum damit also überwunden? Oder brödelten die Kantone nun gemeinsam weiter?

Der Sprung in die Gegenwart scheint letzteres zu belegen: Der Bundesstaat ist zwar geeint, nach aussen lässt er aber Solidarität vermissen. Mit der Masseneinwanderungsinitiative nous voulons avoir le beurre et l’argent du beurre: Zugang zum Europäischen Binnenmarkt, aber keine Personenfreizügigkeit. Vor dem automatischen Informationsaustausch haben wir uns so lange gedrückt, bis die USA intervenierten und der Schaden für uns noch grösser wurde. Im Rohstoffhandel sind wir weltweit führend. Aber wenn es darum geht, in den Produktionsländern auf Menschenrechte zu achten oder minimale Umweltstandards einzuhalten, wollen wir es lieber gar nicht so genau wissen. Rosinenpickerei und Eigenbrötlertum charakterisieren die Schweizer Aussenpolitik scheinbar noch immer. Wir versuchen uns möglichst ohne Commitment irgendwie durchzuwursteln. Das hat bisher überraschen gut funktioniert. Es geht der Schweiz blendend. Lag Johann Rudolf Wettstein also falsch? Kann es uns egal sein, ob es rund um uns herum brennt, solange wir genug Wasser parat haben, um unser eigenes Dach zu löschen?

Ich glaube es wäre fatal, so zu denken. Die Schweiz hat im vergangenen Jahrhundert mächtig davon profitiert, dass sich unsere Nachbarn selbst darum gekümmert haben, ihre Brände zu löschen. Nach Jahrhunderten des Krieges hat sich Europa nach 1945 in ähnlicher Weise zusammengerauft, wie die Schweiz 1848. Es gibt so etwas ähnliches wie eine europäische Verfassung, es gibt einen gemeinsamen Markt und es gibt auch eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik der EU. Für lange Zeit schien es so, als ob unsere Nachbarn sogar an einem riesigen feuerfesten Märchenschloss bauen würden, in dem es sich ganz Europa gemütlich machen könnte. Dass daraus so schnell doch nichts wird, wissen wir inzwischen. Die Briten wollen die EU schon wieder verlassen, die Osteuropäer haben grundsätzlich etwas dagegen, ungebetene Gäste aus unsicheren Weltregionen ins Haus zu lassen. Und die südlichen Mitgliedsstaaten haben in Finanzfragen ein weniger glückliches Händchen bewiesen.

Was bedeutet das für unsere heutige Aussenpolitik? Ich glaube, wir tun gut daran, die Brandgefahren in unserer Nachbarschaft im Auge zu behalten und sie nicht zu vergrössern. Ja, wir könnten nun versuchen mit Grossbritannien gemeinsame Sache zu machen und dafür kämpfen, dass die EU Löcher in die Personenfreizügigkeit bohrt. Dann könnten wir womöglich unseren Marktzugang behalten und trotzdem die Zuwanderung so steuern, wie es uns beliebt. Ich bezweifle aber, dass uns damit langfristig gedient ist. Wenn die EU ihre Grundprinzipien aufweicht, wie viel Gemeinsamkeit bleibt Europa dann noch? Wie sicher können wir sein, dass es irgendwann nicht doch wieder in unserer Nachbarschaft brennt und unser Dach dann ebenfalls Feuer fängt? Oder global betrachtet: Wenn wir uns nicht darum kümmern, die humanitären und ökologischen Probleme, die unserer Wirtschaft weltweit verursacht, zu verringern – wie sicher können wir sein, dass uns diese Probleme nicht sehr bald einholen?

«Es genügt nicht, die Hände in den Schoss zu legen; man muss sich in fremde Händel mischen und des Nachbars Haus löschen helfen, um das seine zu erhalten.» Ich bin der Meinung, Johann Rudolf Wettstein hat mit diesen Worten recht gehabt. Wir Schweizer haben am 12. September 1848 entschieden, dass wir nicht ein lockerer Staatenbund sein wollen, in dem jeder Kanton nur bis zum nächsten Hügel denkt. Wir haben uns zusammengetan und miteinander ein grossartiges Land aufgebaut. Heute, am 12. September 2016 sollten wir uns daran erinnern, wie progressiv wir 1848 waren. Ich will nicht, dass meine Schweiz allein vor sich hinbrödelt. Ich möchte, dass wir das Erbe von 1848 in der Schweizerischen Aussenpolitik weiterführen. Weltoffenheit und Verantwortung übernehmen – in Europa und in der globalisierten Welt, in der wir leben. Lasst uns also mutig und visionär sein; wie damals. Denn die Geschichte zeigt: es kommt gut.