Von Andrea Jud – Der Streit um eine neue Verfassung zieht in Ägypten neue Konfliktlinien. Die Probleme beim Aufbau einer neuen politischen Ordnung gehen dabei über die Frage nach Demokratisierung hinaus: Es geht um Identität.
Zwei scheinbar unversöhnliche Lager stehen sich in Ägypten seit Wochen in Massendemonstrationen und blutigen Ausschreitungen gegenüber: Auf der einen Seite finden sich die Anhänger des Präsidenten Mursi, der Muslimbruderschaft und der mit ihnen alliierten Salafis. Auf der anderen Seite sehen sich säkulare Revolutionäre, Kritiker der Islamisten, Richter und Anhänger des alten Regimes durch ihre Opposition zu Mursi geeint.
In beiden Gruppen wird beansprucht, die Revolution zu vertreten: Während die erste in den Gegnern Mursis Überreste des Mubarak-Regimes sieht, setzt die zweite Mursi mit Mubarak gleich und fordert seinen Sturz.
Alles im Namen der Demokratie
Beide Lager argumentieren mit der Demokratie: Mursis Anhänger betonen, dass er der legitime, gewählte Vertreter der Ägypter sei und fordern seine Gegner im Namen der Demokratie dazu auf, die Entscheidungen der Mehrheit zu akzeptieren. Die andere Seite sieht darin eine drohende Diktatur der Mehrheit und besteht darauf, dass Respekt vor den Rechten der Minderheiten und der Gewaltentrennung zur Demokratie gehöre.
Was heisst es, Ägypter zu sein?
Für die Gegner der Islamisten hat Mursi seine Legitimität verloren. Viele fühlen sich durch seine Politik und die neu entworfene Verfassung nicht repräsentiert, manche sogar regelrecht bedroht.
Diese Spaltung der Gesellschaft wird erst durch ihre Verbindung mit Fragen der Identität so tief und unversöhnlich. Die Gräben können mit der Einführung demokratischer Verfahren allein nicht überwunden werden. Stattdessen sind Diskussionen über politische Ordnung nötig und darüber, was es eigentlich heisst, Ägypter zu sein.
Politische Kritiker werden diskreditiert
Besonders gefährlich ist in dieser Situation Populismus, der politische Kritik als Angriff auf die eigene Identität und Authentizität diskreditiert. In der aufgeheizten Stimmung ist politische Versöhnung schwer. Islamisten mit Verbindungen in ehemals jihadistische Kreise haben schon gewarnt, dass es bei anhaltenden Spannungen zu Attentaten auf politische Gegner kommen könnte. Der aktuelle Konflikt bietet auch den Militärs die Möglichkeit, sich wieder auf der politischen Bühne zu positionieren: Mursi erteilte ihnen bereits die Erlaubnis, bis zum Referendum über die Verfassung Zivilisten zu verhaften.
Was in Ägypten passiert, ist regional bedeutsam
Die Ereignisse sind über Ägypten hinaus interessant. Sie zeigen, dass islamistische Kräfte in einem demokratischeren Nahen Osten nach dem Arabischen Frühling zwar stark, aber nicht unangefochten sind. Ob es den Islamisten gelingt, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu einer Gesellschaft zu integrieren, müssen sie dabei erst noch beweisen.
Was kann die Schweiz tun?
Die Schweiz und andere Länder mit Beziehungen zu Ägypten müssen sich bewusst sein, dass Ägypten und die Region erst am Anfang grundlegender Veränderungen stehen. Gleichzeitig dürfen politische Probleme nicht ignoriert oder als kulturelle Besonderheiten verharmlost werden.
Internationaler Druck sollte auf eine ägyptische Versöhnung abzielen, ohne mit kurzfristigen Aktionen die Situation weiter zu destabilisieren. Denn in naher Zukunft liegen weitere grosse Herausforderungen: Um einen dringend benötigten IWF-Kredit zu erhalten, muss Ägypten strenge Sparmassnahmen umsetzen. Diese werden die Bevölkerung, von der etwa 40% unter der Armutsgrenze lebt, hart treffen und für massiven sozialen Zündstoff sorgen.
Andrea Jud, M.A., ist Politikwissenschaftlerin und Islamwissenschaftlerin und promoviert zu Differenzierungsprozessen im ägyptischen Islamismus. Sie ist Mitglied in der AG Menschenrechte, der AG Entwicklung und Zusammenarbeit und der AG Migration.
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