Von Andrea Jud – Ein Jahr nach dem Beginn des arabischen Frühlings finden in Ägypten die freisten Parlamentswahlen seit Jahrzehnten statt. Die Opposition ist in ihrer Taktik gespalten: Ein Teil will sich die Chance auf einen Wahlerfolg nicht nehmen lassen. Andere bezweifeln, ob die Wahl eine demokratische Zukunft bringt und fordern den herrschenden Obersten Militärrat (SCAF) auf der Strasse heraus. Klar ist jedoch, dass der Kampf um Demokratie erst begonnen hat.
Seit November und noch bis Januar wählen die Ägypter/innen in mehreren Etappen ein Parlament. Die Wahlbeteiligung ist nach inoffiziellen Zwischenergebnissen hoch. Auch ein kompliziertes Wahlsystem und eine chaotische Organisation können nicht von der neu erlangten Freiheit abschrecken. Die besten Resultate erzielen Islamisten, während Überbleibsel des alten Regimes klar verlieren. Der Wahlerfolg der Islamisten wurde erwartet. Überraschend ist jedoch, dass hinter der Partei „Freiheit und Gerechtigkeit“ der etablierten Muslimbruderschaft die salafistische „Nur“-Partei das zweitbeste Ergebnis erzielte: Die religiöse Strömung verfügt über keine Erfahrung in der Politik und löst mit ihrer ultrakonservativen Haltung berechtigte Zweifel aus.
Blutige Auseinandersetzungen zwischen Militär und Demonstrierenden
Sorgen um die politische Zukunft des Landes bereitet jedoch auch immer mehr das Verhalten des SCAF. Die brutale Zerschlagung von Demonstrationen mit Todesopfer zerstört das Vertrauen ins Militär. Die Anzahl der Zivilisten in Haft und solchen, die vor Militärgerichte gestellt werden, steigt. Darüber hinaus wurden Pläne des SCAF publik, sich selbst und sein Budget auch in Zukunft der politischen Kontrolle zu entziehen. Dies wird als Versuch des Militärs gewertet, seine politische Rolle auch für die Zeit nach der geplanten Übergangsphase zu sichern.
Uneinigkeit in der Opposition
Die Pläne des SCAF werden von weiten Teilen des politischen Spektrums verurteilt. Die doppelte Taktik des Militärs, das einerseits Wahlen abhält und andererseits Opposition auf der Strasse niederschlägt, spaltet jedoch die revolutionäre Bewegung. Einige bezweifeln den Sinn von Wahlen in der aktuellen politischen Situation und rufen zu Demonstrationen auf. Die Islamisten hingegen, mit ihrem grossen Mobilisierungspotential, nehmen an diesen Demonstrationen nicht teil. Nach Jahrzehnten der Opposition wollen sie sich die Möglichkeit eines Wahlsieges nicht nehmen lassen und scheuen jede Unruhe. Eine Störung der Wahlen birgt auch Gefahren. Gerade die Islamisten, die sich neu am politischen Prozess beteiligen, sollten in ihren demokratischen Versuchen nicht enttäuscht werden. Sie könnten sich sonst radikaleren Methoden zuwenden und den politischen Dialog in Ägypten weiter erschweren.
Offene politische Zukunft
Für die Zukunft ist einerseits eine Allianz zwischen Islamisten und Militär denkbar. Das Militär kann jedoch auch den Wahlsieg der Islamisten als Drohszenario benutzen, um einen Übergang zu ziviler Herrschaft zu verhindern. Genauso gut ist möglich, dass ein gewähltes, islamistisch dominiertes Parlament den Druck auf das Militär erhöhen und zusammen mit dem säkularen Teil der revolutionären Bewegung zivile Herrschaft einfordern kann. Allerdings sind die Kompetenzen des Parlamentes noch nicht festgelegt und seine Bedeutung wurde in Aussagen des SCAF bereits relativiert. Auch eine neue Verfassung, welche die politischen Vorgänge regelt, muss noch geschrieben werden. Die wirtschaftlich schwierige Situation Ägyptens bringt weitere Instabilität. Der Kampf um die politische Zukunft Ägyptens findet somit an verschiedenen Fronten statt und ist noch in vollem Gange. Der Schweiz kann in dieser Situation nur geraten werden, mit allen Seiten – ohne Scheu vor ideologischen Gräben – Kontakt zu suchen und gleichzeitig alle Beteiligten zu Anstrengungen für eine friedliche und demokratische Zukunft aufzurufen.
Andrea Jud, M.A., ist Politikwissenschaftlerin und Islamwissenschaftlerin und promoviert zu Differenzierungsprozessen im ägyptischen Islamismus. Sie ist Mitglied bei foraus in der AG Menschenrechte, AG Entwicklung und Zusammenarbeit und AG Migration.
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