Nina Schneider – Rahel Loretan hat gar nicht so unrecht, wenn sie von einem weltweiten Gesellschaftsvertrag spricht. Denn viel wichtiger noch als die immer knappen Finanzen wird für die neu zu gestaltende Entwicklungsagenda die moralische Akzeptanz sein.
Sustainable Development Goals – Die Blogreihe
Dieser Beitrag ist die Reaktion von Alliance Sud auf den foraus-Blog “Post-15-Agenda: Papiertiger oder revolutionärer Gesellschaftsvertrag?” und Teil einer Blog-Reihe zu den Sustainable Development Goals (SDG). Diese Blog-Reihe reflektiert bis Mitte Oktober verschiedene Aspekte dieser zukünftigen Entwicklungsagenda.
Wir von Alliance Sud begrüssen, dass Foraus mit diesem Blog die öffentliche Debatte zur Post-2015-Agenda anstösst. Die MDGs werden 2015 auslaufen. Diese Woche ziehen die Uno-Staaten an ihrer Generalversammlung in New York Bilanz. Klar ist schon heute: Auch wenn numerisch die Armut weltweit halbiert wurde, ist die Welt von der Realisierung der gesetzten Ziele und einer gerechten Verteilung der global verfügbaren Mittel und Chancen noch weit entfernt. Tatsächlich braucht die Anschlussagenda an die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) scharfe Krallen, wenn sie als Instrument zur Lösung überlappender Krisen weltweit anerkannt werden und vor allem auch Wirkung entfalten soll. Dazu ist es wichtig, die Schwächen der MDG zu kennen.
Aus der MDG-Dekade lernen
Die einfache Formulierung und die begrenzte Anzahl von acht Zielen waren ein wirksamer Ansatz, um Regierungen und Zivilgesellschaft weltweit für wichtige soziale Prioritäten zu mobilisieren. So gelang es, gesamthaft die Zahl derjenigen, die pro Tag mit weniger als 1,25 Dollar auskommen müssen, zu halbieren. Allerdings war dieser Erfolg bereits im Jahr 2000 absehbar: Er ist vor allem dem rasanten Wirtschaftswachstum im bevölkerungsreichen China zu verdanken, aber auch den Überweisungen von MigrantInnen in ihre Herkunftsländer, die heute rund das Dreifache der Entwicklungshilfe der OECD-Staaten ausmachen.
Die Fortschritte der MDGs fielen je nach Weltregion und Zielgruppe sehr unterschiedlich aus. Die globalen Zielsetzungen, die bewusst keine Macht- und Systemkritik übten, begünstigten vielerorts zuerst einmal die leicht erreichbaren Gruppen. Will die Agenda bis 2015 die ausstehenden Lücken füllen, sind in den nächsten zwei Jahren immer grössere Anstrengungen nötig.
Die grössten Defizite finden sich im MDG 8, das die Industrieländer zu Gunsten der Entwicklung in den ärmsten Ländern zu einer «Globalen Partnerschaft» anhält. MDG 8 umfasst die freiwillige Verpflichtung 0,7% des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklung in den ärmsten Ländern zu Verfügung zu stellen, den Aufbau von berechenbaren und nicht diskriminierenden Handels- und Finanzsystemen, die Unterstützung zur Lösung der Schuldenproblematik, den Zugang zu erschwinglichen Arzneimitteln und zu Informations- und Kommunikationstechnologien etc.
Rechtzeitig zum Auftakt der Uno-Generalversammlung hat die MDG Gap Task Force ihren Bericht vorgelegt, der detailliert aufzeigt, wo die Industriestaaten hinter ihren Versprechen herhinken. Von den zugesagten jährlichen 300 Milliarden US-Dollar werden heute gerade mal 125 Milliarden geleistet. Statt schrittweise die Beiträge zur erhöhen, ist in Folge der Austeritätspolitik in Europa die Entwicklungshilfe seit zwei Jahren sogar rückläufig. So auch die Zahlungen an die ärmsten Länder Schwarzafrikas, die existenziell auf die Transferleistungen angewiesen sind. Auch die Doha-Runde der WTO, die den weltweiten Handel zu Gunsten der Entwicklungsländer reformieren und die Agrarsubventionen der Industrieländer abschaffen wollte, ist seit Jahren blockiert. Die bevorstehende Ministerkonferenz in Bali droht erneut ohne Durchbruch in dieser Frage über die Bühne zu gehen. Derweil erfassen die breit angelegten Entschuldungsprogramme längst nicht alle hochverschuldeten Länder. Schlimmer noch, sechs der erst kürzlich sanierten Staatskassen von ärmsten Ländern (LDCs) drohen in naher Zukunft erneut in eine Überschuldungsspirale zu geraten. Und dies obwohl internationale Konzerne erfolgreich in den aufstrebenden Märkten der Entwicklungsländer wirtschaften. Die Preise für überlebenswichtige Medikamente liegen nach wie vor rund 3 bis 6 Prozent über den internationalen Referenzwerten und der Markt für Kommunikationstechnologie boomt.
Dabei könnten sich viele Entwicklungsländer bereits heute umfassende Sozialprogramme leisten, könnten sie sich mit griffigen Massnahmen gegen die Steuerflucht wehren. Gemäss aktuellen Zahlen entgehen ihnen jedes Jahr 284 Milliarden Dollar an möglichen Steuereinkünften (124 Mrd. durch private Steuerflucht und rund 160 Mrd. durch Steuervermeidung multinationaler Konzerne). Kurz und bündig, was Not tut sind gerechte Austauschverhältnisse zwischen den reichen mächtigen Industriestaaten und dem strukturell armgehaltenen Süden, die alle Staaten in die Pflicht nehmen. Genau das streben Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon und die Weltgemeinschaft laut unzähligen Berichten mit der Post-2015-Agenda an. (Siehe dazu den neuen Videoclip des High Level Pannel).
«Ein Leben in Würde für alle»
Die Vorschläge für die Post-2015-Agenda mögen in manchen Ohren utopisch klingen. Rahel Loretan hat gar nicht so unrecht, wenn sie von einem weltweiten Gesellschaftsvertrag spricht. Denn viel wichtiger noch als die immer knappen Finanzen wird für die neu zu gestaltende Entwicklungsagenda die moralische Akzeptanz sein. Wie die MDG wird auch die Post-2015-Agenda keinen Gesetzescharakter geniessen. Vielmehr ist sie auf Zustimmung von Regierungen angewiesen. Mit der breit angelegten Konsultation zu den künftigen Zielen wollen die Uno-Gremien denn auch, dass sich weite Kreise der Zivilgesellschaft, der Wissenschaft und des Privatsektors mit der künftigen Architektur der Weltgemeinschaft auseinandersetzen. Denn letztlich kann nur die Bevölkerung ihre Regierung verpflichten, versprochene Massnahmen und Ziele auch wirklich umzusetzen. Ob diese Ziele in letzter Konsequenz realistisch sind, ist aktuell weniger relevant, als dass diese Ziele die globalen Krisen umfassend angehen und ein internationales Rahmenwerk bilden. Ein Rahmenwerk, das entrechteten und verarmten, unterdrückten und kranken, von Umweltschäden und Klimafolgen betroffenen Menschen Instrumente bereit stellt, das ihre Bedürfnisse und Nöte artikuliert und ihnen hilft, ihre Rechte einfordern zu können.
Nina Schneider ist bei Alliance Sud verantwortlich für internationale Entwicklungspolitik.
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