Viel Kritik, Lob und eine Interpellation im Nationalrat – das waren die Reaktionen auf den Reformvorschlag für das Dublin-System, den vier foraus-Autorinnen letzte Woche in Bern präsentierten. Sie plädieren nebst einer Trennung von Registrierung und Asylverfahren, einem finanziellen Ausgleichsmechanismus und einer temporären Schutzklausel auch dafür, dass Asylsuchende mitentscheiden sollen, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen. Insbesondere diese Wahlfreiheit für Geflüchtete wurde von vielen Seiten kritisiert. In diesem Blogbeitrag nehmen die AutorInnen zu den Kritikpunkten Stellung.
Das Echo in den Medien und der Politik war gross, als die neue Dublin-Studie am vergangenen Montag in Bern präsentiert wurde. Unter anderem der Tagesanzeiger, Watson, die BaZ und LeTemps berichteten über den Vorschlag und betitelten ihn unisono als «radikal». Während einerseits kritisiert wurde, dass die Wahl des Ziellandes kein «Wunschkonzert» sein dürfe, äusserten die befragten ParlamentarierInnen vor allem Bedenken bezüglich der Asylstandards und des finanziellen Ausgleichsmechanismus.
Kritikpunkte und die Einschätzung der AutorInnen
1. Race to the bottom: Wenn Geflüchtete ihr Zielland selbst aussuchen dürften, würde dies dazu führen, dass die Dublin-Länder versuchen, ihre Asylverfahren weiter zu verschlechtern, um so unattraktiv wie möglich zu sein.
Einschätzung der AutorInnen:
a) Der finanzielle Ausgleichsmechanismus wirkt einem solchen race to the bottom entgegen und könnte es sogar umdrehen. Die Ausgleichszahlungen sind kein Trinkgeld und sollen durchaus sanktionierend wirken (Vergleich: selbst die EU spricht von einem Betrag von 250’000 Euro pro Person). Dies kann somit im Gegenteil dazu führen, dass es für Länder attraktiv wird, geflüchtete Personen aufzunehmen – im Gegensatz zum aktuellen System mit den bestehenden Fehlanreizen.
b) Das Dublin-System ist nur eines von fünf Elementen der europäischen Asylkoordination. Eine Harmonisierung der Asylstandards ist vertraglich vorgesehen und hat bereits Erfolge erzielt. Bestehende Fehlanreize führen jedoch heute dazu, dass die Harmonisierung schlecht umgesetzt wird.
c) Die nationale Asylpolitik hat erwiesenermassen nur begrenzt Einfluss auf die Zahl der Asylgesuche in einem Land. Die zentralen Faktoren – Informationen auf der Flucht, private Netzwerke und strukturelle Gründe – entziehen sich weitgehend der Gestaltungsmacht von Asylpolitik.
2. Wenn Geflüchtete ihr Zielland frei wählen könnten, würden sie ihre Asylanträge vor allem in wenigen Ländern wie Deutschland, Schweden und der Schweiz stellen. Eine unzumutbare Überlastung für diese Staaten wäre die Folge.
Einschätzung der AutorInnen:
a) Trotz der Dublin-Regeln ist die Verteilung bereits heute sehr ungleich: Geflüchtete verbleiben nicht wie vorgesehen im Ersteintrittsland, sondern gelangen in die nördlichen Zielländer. Die Geflüchteten ziehen einfach irregulär (mit oder ohne Registrierung) weiter. Die Grenzen innerhalb Europas sind zwar eine weitere Hürde aber definitiv kein Hindernis um das Ziel zu erreichen. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich die Ziellandpräferenzen der Asylsuchenden bei einem Mitspracherecht ändern würden.
b) Für die Wahl des Ziellandes sind Faktoren wie soziale Netzwerke oder Sprachkenntnisse zentral. Ein Mitspracherecht führt daher nicht automatisch dazu, dass alle Geflüchteten in die wohlhabendsten Staaten möchten. Gerade im Zuge der europäischen Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, dass die Schweiz kein besonders populäres Zielland ist und für viele Geflüchtete lediglich ein Transitland darstellt. Heute ist die Schweiz für Asylverfahren von Personen zuständig, die gar nie in die Schweiz wollten, und aufgrund ihrer irregulären Durchreise durch die Schweiz hier das Asylverfahren durchlaufen müssen. Das Mitspracherecht von Geflüchteten würde verhindern, dass Transit-Flüchtlinge im Schweizer Asylsystem enden.
c) Falls es zu substanziellen Veränderungen in den Zielländern kommt und einige Staaten mit einem starken Anstieg an Gesuchszahlen im Vergleich zu den anderen Staaten konfrontiert sind, haben diese dank dem Reform-Vorschlag der foraus-Autorinnen zwei entscheidende Vorteile: sie erhalten finanzielle Unterstützung von den anderen Staaten und es gibt eine Schutzklausel mit der sie die Aufnahme von Geflüchteten temporär aussetzen können. Letzteres ist im heutigen System nicht möglich.
3. Wenn Geflüchtete dorthin ziehen, wo sie ihre Netzwerke haben, entstehen Ghettos und Parallelgesellschaften.
Einschätzung der AutorInnen:
a) Dank Mitspracherecht der Geflüchteten verbessern sich ihre Integrationschancen substanziell und die Gefahr einer sozialen Marginalisierung in Ghettos wird reduziert. Denn durch die vorgeschlagene Reform können Geflüchtete an wertvolle soziale und kulturelle Netzwerke andocken und in Länder gelangen, wo sie mit ihren sprachlichen und beruflichen Kenntnissen die besten Zukunftsperspektiven haben.
b) Für die Entstehung von Ghettos sind in erster Linie Faktoren wie die Sozial- und Raumplanungspolitik relevant, die von der Asyl- und Migrationspolitik grösstenteils unabhängig sind. Darüber hinaus wird der Prekarisierung und Marginalisierung Vorschub geleistet, wenn MigrantInnen kaum oder erst spät Zugang zu rechtlicher und gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht wird.
c) Bereits heute sind Netzwerkeffekte ein wichtiger Faktor bei der Wahl des Ziellandes und trotzdem gibt es in der Schweiz keine Ghettos oder Parallelgesellschaften.
d) Existierende Flüchtlingsghettos wie beispielsweise in Calais sind das direkte Ergebnis der Fehlanreize des heutigen Dublin-Systems. Der Reformvorschlag der foraus-AutorInnen zielt gerade darauf ab, diese Probleme zu überwinden.
4. Ohne legale Fluchtwege in den Dublin-Raum, wie es zum Beispiel das Botschaftsasyl wäre, können die Probleme des Dublin-Systems nicht gelöst werden.
Einschätzung der AutorInnen:
a) Das Dublin-System regelt einzig die Zuständigkeit von Asylgesuchen zwischen den europäischen Staaten und nicht die Einreisemodalitäten von humanitären Flüchtlingen. Damit humanitäre Katastrophen an den Aussengrenzen verhindert und das dortige Schleppergeschäft unterbunden werden kann, sind Möglichkeiten zu einer regulären Einreise nach Europa unerlässlich. Insbesondere solange dies nicht der Fall ist, bleibt die Koordination zwischen den Ländern wünschenswert und notwendig.
b) Das Race to the bottom bei den Einreisebestimmungen für Geflüchtete wird nicht zuletzt durch die Fehlanreize des Dublin-Systems begünstigt. Gelingt es, ein funktionierendes Zuständigkeitssystem zu etablieren, welches die Interessen der beteiligten Staaten berücksichtigt, dürfte die Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten politisch wieder attraktiver werden.
5. Durch einen finanziellen Ausgleichsmechanismus können sich einzelne Länder vom Flüchtlingsschutz «freikaufen».
Einschätzung der AutorInnen:
a) Siehe Argumentation zu Punkt 1. Ein finanzieller Ausgleichsmechanismus macht die Aufnahme von Geflüchteten attraktiver.
b) Die europäischen Länder haben unterschiedliche Voraussetzungen beim Schutz und bei der Integration von Geflüchteten. Die Solidarität sollte daher nicht nur in der Aufnahme von Geflüchteten erbracht werden können, sondern auch durch finanzielle Unterstützung, so wie dies im internationalen Flüchtlingsschutz praktiziert wird.
c) Die Schweiz hat bereits Erfahrung mit finanziellen Ausgleichsmassnahmen im Asylwesen. Die Aufnahme einer Flüchtlingsfamilie in der Gemeinde Oberwil-Lieli zeigt exemplarisch, dass solche finanziellen Anreize zur Aufnahme von Geflüchteten bewegen können.
6. Die Länder, die sich «freikaufen» wollen, können das gar nicht, weil sie das Geld dazu nicht haben.
Einschätzung der AutorInnen:
a) Der von der EU vorgeschlagene Verteilschlüssel (auf welchem der Finanzausgleich basiert) nimmt sowohl wirtschaftliche als auch demographische Faktoren in die Berechnung mit auf. Unterschiedliche Voraussetzungen sind also bereits berücksichtigt. Die zu zahlenden Beiträge würden für jedes Land individuell berechnet.
b) Flüchtlingsschutz ist ein öffentliches Gut, das Länder gemeinsam bereitstellen. Die teilnehmenden Länder haben sich mit Dublin grundsätzlich auf ein System geeinigt, dass Solidarität und gegenseitige Unterstützung erwartet und voraussetzt. Trittbrettfahren soll keine Möglichkeit sein und wird sanktioniert.
7. Dieser Vorschlag ist politisch niemals umsetzbar.
Einschätzung der AutorInnen:
a) Die EU selbst schlägt eine Reform des Dublin-Systems durch die Schaffung einer gemeinsamen Asylpolitik vor. Da aber die Übertragung von nationaler Souveränität auf die EU zur Zeit sehr unpopulär ist, wird dieser Vorschlag wohl keine Unterstützung findet. Der Reformvorschlag der foraus-AutorInnen hingegen ermöglicht eine Verbesserung des Dublin-Systems ohne grösseren Souveränitätsverlust für die beteiligten Staaten.
b) Zurzeit haben Länder mit verschiedensten Ausgangslagen Interesse an einer Reform. Darunter auch sehr wichtige Player wie Deutschland, Schweden und Frankreich. Das war nicht immer so. So sperrte sich zum Beispiel Deutschland in den 2000er Jahren gegen Reformen des europäischen Asylsystems. Heute treibt Deutschland diese Reformen an. Die Chancen stehen besser denn je, dass eine Reform tatsächlich angepackt wird.
c) Vom Reformvorschlag der foraus-AutorInnen profitieren alle Ländergruppen: Aufnahmeländer wie Deutschland und Schweden würden neu finanziell und logistisch unterstützt; Peripherieländer wie Griechenland und Italien würden entlastet und Nicht-Aufnehmer wie Polen und die Slowakei müssten nicht gezwungenermassen Geflüchtete aufnehmen, sondern können ihren Beitrag auch finanziell leisten.