Verantwortung im Krieg: Wider das Schweigen der Gesetze

Angesichts heutiger Konfliktformen ist eine fundierte Ausbildung der Streitkräfte in den Prinzipien des Humanitären Völkerrechts dringender denn je.

 

Vor Kurzem machten die Medien bekannt, dass in Hebron ein israelischer Soldat mit einem gezielten Kopfschuss einen verwundeten und am Boden liegenden palästinensischen Angreifer tötete. Hierbei ist nicht nur die Tat an sich erschütternd, sondern auch, dass weder seine Kameraden noch seine Vorgesetzten ihn von dieser Tat abhielten. Schockierend wie dieser Vorfall ist, zeigt er die Dringlichkeit und Bedeutsamkeit einer profunden Aus- und Weiterbildung in «Humanitärem Völkerrecht» (oder auch «Gesetze und Gebräuche des Krieges») im Rahmen des Militärdienstes auf allen Rangstufen.

Das Gesetz im Krieg

Das «Humanitäre Völkerrecht» hat seinen Anfang Ende des 19. Jahrhunderts, ist aber noch heute gültig. Früher als «Kriegsvölkerrecht» bezeichnet, versucht dieser Regelkatalog zwei entgegengesetzte Interessen in einem bewaffneten Konflikt gleichwertig zu berücksichtigen. So soll einerseits der militärischen Notwendigkeit einer Handlung Rechnung getragen werden, zugleich aber muss das Prinzip der Menschlichkeit und der Verhältnismässigkeit Beachtung finden. Hieraus ergeben sich die Grundsätze des Humanitären Völkerrechts. Einer der Wesentlichsten ist die Unterscheidung zwischen kombattanten und nichtkombattanten Personen. Nichtkombattante sind Zivilpersonen und Personen hors de combat, also Angehörige von Streitkräften, welche nicht (mehr) an Kampfhandlungen beteiligt sind, da sie die Waffen niedergelegt haben, verletzt sind oder zum militärisches Sanitäts- oder Seelsorgepersonal gehören. Das Humanitäre Völkerrecht gebietet solche Personen zu schonen und zu schützen und verbietet sie zu verletzen oder gar zu töten. Damit verbunden ist die strikte Unterscheidung zwischen «militärischen Zielen», etwa Geschützstellungen, und «zivilen» Zielen, beispielsweise Spitälern und Schulen, welche keinesfalls angriffen werden dürfen. Verboten sind daher weiter auch Mittel und Methoden, bei deren Anwendung nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten unterschieden werden kann, zum Beispiel der Einsatz von Antipersonenminen.

Auch ist die Wahl der eingesetzten Mittel und Methoden zur Kriegsführung nicht uneingeschränkt, sondern muss verhältnismässig sein. Dies bedeutet, dass eine militärische Operation keine unverhältnismässigen Verluste in der Zivilbevölkerung oder Schäden an zivilen Objekten und der Umwelt verursachen darf. Schwere Verletzungen des Humanitären Völkerrechts, etwa die unmenschliche Behandlung von Gefangenen und der Zivilbevölkerung sind Kriegsverbrechen und/oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Herausforderung «Neue Kriegs- und Konfliktformen»

Die Einhaltung der Regeln des Humanitären Völkerrechts ist also für jeden Streitkräfteangehörigen in jedem Moment seines Einsatzes zwingend. Im extremen Stresszustand während eines Konflikts ist es für einen Streitkräfteangehörigen allerdings sehr schwierig, die Rechtmässigkeit des eigenen Handelns abschätzen zu können. Erschwerend kam in den letzten Jahrzehnten noch hinzu, dass moderne Konflikte kaum noch von regulären Armeen und innerhalb klar feststehender Schlachtfelder ausgetragen werden. Anders als in klassischen (internationalen) Konflikten, also Konflikte mit zwei sich gegenüberstehenden Armeen, sind die meisten Konflikte heute asymmetrisch und staatsintern. In einem solchen sind Kombattanten und Zivilisten nicht länger klar unterscheidbar und Gefechte werden überall und zu jeder Zeit mit den unterschiedlichsten Mitteln geführt.

Der auf diese Weise veränderte Einsatzkontext bedeutet eine grosse Herausforderung für Soldaten und die jeweiligen Vorgesetzten. Denn diese müssen sich zu jeder Zeit während ihres gesamten Einsatzes über die Rechtmässigkeit ihres Handelns im Klaren sein. Während in verschiedenen regulären Streitkräften die Bedeutung einer umfassenderen Ausbildung der Truppen in Humanitärem Völkerrecht erkannt und intensiviert wurde, gibt es auch Bestrebungen Angehörige nicht-regulärer Einheiten für Grundsätze des Humanitären Völkerrechts zu sensibilisieren. Ein Ansatz hierzu ist etwa die von der Nichtregierungsorganisation «Geneva Call» entwickelte kostenlose Smartphone-App «Fighter Not Killer».

Mehr Bewusstsein zur Verantwortung nötig

Eine weitere Herausforderung ist, den Kommandanten aller Stufen klar zu machen, dass sie nicht nur für ihr eigenes, sondern auch für das Handeln ihrer Untergebenen die Verantwortung tragen und für deren allfälliges Fehlverhalten haftbar gemacht werden können. (In diesem Zusammenhang wird der Ausdruck «Kommandantenverantwortung» verwendet.) Dabei kann der Kommandant nicht nur für von ihm bewusst angeordnete Handlungen zur Verantwortung gezogen werden, sondern auch für fehlbare Handlungen seiner Untergebenen, von denen er gewusst hat oder zumindest gewusst haben müsste – und nicht wirkungsvoll dagegen vorgegangen ist.

Die Aus- und Weiterbildung in Humanitären Völkerrecht in den Streitkräften ist durch die Veränderung der Konfliktformen heutzutage dringender denn je. Dies wurde in vielen Streitkräften erkannt und angestrebt.  Auch in der Schweizgibt es grosse Bemühungen in diese Richtung. Diese fokussieren jedoch sehr auf die Ausbildung der höheren Kommandanten. Daneben darf die Ausbildung in Humanitärem Völkerrecht im Rahmen der Grundausbildungsdienste (GAD, also den Rekruten-, Unteroffiziers-, und Offiziersschulen) sowie die standardmässige Auffrischung dieses Wissens in jedem Fortbildungsdienst der Truppen (FDT, ehemals WK) nicht nur nicht vernachlässigt, sondern sollte vielmehr intensiviert werden. Hierfür ist es indes wichtig, dass die grundlegende Bedeutsamkeit des Humanitären Völkerrechts sowie dessen Ausbildung von den Verantwortlichen aller militärischer Stufen, aber auch der zivilen Akteure in Exekutive, Legislative und Administration verstanden und dementsprechend gefördert wird.