Das Ringen um die zukünftige Europapolitik geht im Jahr 2014 in die entscheidende Phase: Eine Rede zum Traum oder Traumata Europa.
Der EU geht es schlecht. Die Arbeitslosigkeit in den südeuropäischen Ländern hat tragische Ausmasse angenommen. Die nordeuropäischen Mitgliedsstaaten mussten fantastische Summen zur Rettung der Währungsunion aufwerfen. In Nacht-und-Nebel-Aktionen hat Deutschland praktisch im Alleingang Lösungen entworfen, die vor der Krise noch undenkbar schienen. Die populistischen Parteien Frankreichs, Finnlands, Hollands erstarken, die Demokratie lässt nach wie vor zu wünschen übrig, England will austreten, Schottland sich von England abspalten, Katalonien von Spanien, Ungarn schert sich nicht um die Medienfreiheit. Und der Moloch Brüssel gibt sich selbstgefällig und beschäftigt sich wie üblich mit sich selbst, mit gekrümmten Gurken und mit dem Olivenöl auf dem Tisch in der Pizzeria.
Derweil glänzt die Schweiz. Mit Fleiss und Bescheidenheit arbeiten wir zum Wohl zukünftiger Generationen. Wir treiben den längsten Tunnel der Welt durch die Alpen, bieten den interessantesten Arbeitsmarkt, sind Innovationseuropameister, gewinnen Forschungspreise, häufen Vermögen an und verteilen es gerecht. Wir führen einen besonnenen demokratischen Diskurs, der auf gegenseitigem Respekt und einer Kompromisskultur basiert. Wir pflegen unsere Traditionen auf originelle Art und Weise und können damit selbst die zahlreichen Einwanderer begeistern und integrieren. Unser Handel, der bis in die exotischsten Gegenden des Globus’ reicht, blüht und nebenher vermitteln wir dank unserer selbsterfundenen, seit 1291 anhaltenden Neutralität nicht nur zwischen Iran und den USA, sondern auch in diversen anderen Konfliktgebieten.
Der Untergang Europas lässt sich vom Sonnendeck auf dem Jungfraujoch am besten beobachten. Kenner geniessen dazu noch ein Kaffeeschnaps.
Meine Damen und Herren: Zuweilen hat man tatsächlich das Gefühl, auf Grundlage einer solchen Bestandsaufnahme würde unsere Beziehung zur EU diskutiert. Eine Beziehung zwischen Staaten, der in der hiesigen Betrachtung manchmal menschliches und allzu menschliches zugeschrieben wird. Beinahe hat man das Gefühl, wenn wir Schweizer auf die EU schauen, dann würden wir an eine ehemalige Geliebte denken, die wir einst 1992 verlassen haben – zum Glück verlassen haben, wie heute die meisten sagen! Allerdings müssen wir uns dieses Glück auch immer wieder zureden, um daran zu glauben! Denn vielleicht schlummert irgendwo tief in uns drin noch immer der Traum von einer glücklichen Liebe zu Europa.
Die Diskussion hat manchmal die Qualität der Berichterstattung über Mitglieder von Königshäusern in der Gala!
Aber ist das nicht absurd? Dass der öffentliche Diskurs mit einer Beziehung zwischen Staaten umgeht, wie er auch mit einem Trennungstrauma umgehen würde? Ist das nicht etwas kindisch und lächerlich? Immerhin – meine Damen und Herren – handelt es sich um erwachsene Staaten! Und Staaten haben Interessen anstelle von Gefühlen! Wäre es nicht etwas seriöser, könnten wir nicht pragmatischer entscheiden, wenn wir das in Betracht ziehen würden? Schliesslich haben wir mit unserer Ex-Affäre noch immer geschäftlich zu tun!
Vielleicht, meine Damen und Herren, ist es absurd. Aber es ist auch eine Tatsache: Träume und Traumata spielen in unserer Europapolitik offenbar tatsächlich eine Rolle. Aber welche Rolle ist das? Und welche sollte es sein?
In Anbetracht dessen, dass wir in den kommenden Monaten eine ernsthafte Diskussion in diesem Land führen sollten, wie wir unser Verhältnis zur EU ausgestalten wollen – Stichworte Masseneinwanderungsinitiative, Ecopop, Kroatien, aber auch Institutionelle Fragen – sollten wir uns darüber im klaren werden, wie wir mit diesen Träumen und Traumata umgehen wollen. Und vor allem, wie wir in diesen Vorlagen vernünftigerweise entscheiden sollten.
Redigierte Version der Rede von Maximilian Stern anlässlich der Eröffnung des ZEIT- und foraus-Podium “Traum oder Trauma: ein Streitgespräch zu den Beziehungen zwischen Schweiz und der EU” vom 28.11.2013.