Eine zentrale Befürchtung mit der Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes für EU-Bürgerinnen und Bürger besteht darin, dass das erweiterte Arbeitskräfteangebot zu geringeren Löhnen in der Schweiz führe. Dass Zuwanderung im Rahmen des freien Personenverkehrs ‘Lohn-Dumping’ erleichtere, gilt bisweilen als unhinterfragte Gewissheit. Die Forschung zeigt jedoch, dass diese Vorstellung auf falschen Annahmen beruht. Die Personenfreizügigkeit stellt vielmehr ein wirkungsvolles Mittel dar, dem Lohn-Dumping entgegenzuwirken.
Von links bis rechts scheint man sich einig zu sein: Die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes im Rahmen der Personenfreizügigkeit drohe, die Schweizer Löhne zu unterminieren. Die Linke knüpft ihre Zustimmung zur Personenfreizügigkeit an flankierende Massnahmen auf dem Arbeitsmarkt, welche vor Lohndumping schützen sollen – der Praxis, dass durch die Anstellung zugewanderter Personen mit tieferen Löhnen das Lohnniveau nach unten gedrückt wird. Die Rechte argumentiert, dass die Personenfreizügigkeit durch mehr Zuwanderung Schweizerinnen und Schweizer aus dem Arbeitsmarkt verdränge und zu Druck auf Schweizer Löhne führe.
Wissenschaftliche Studien stützen diese These jedoch nicht. Der Effekt der Einwanderung auf die Löhne der einheimischen Beschäftigten ist eine der meist-untersuchten Fragen der Arbeitsmarktforschung. Die verfügbaren Studien für die Schweiz bestätigen Befunde aus anderen Ländern: Die Einführung der Personenfreizügigkeit hatte weder systematische Verdrängungseffekte zur Folge, noch führte sie zu einem tieferen Lohnniveau. Dass sich diese Vorstellung dennoch hartnäckig hält, liegt primär im Fehlschluss eines statischen Arbeitsmarktes, bei dem hinzukommende Arbeitskräfte den bereits Anwesenden gezwungenermassen etwas wegnehmen würden und es zu einer Nivellierung nach unten komme. In Realität erhöht die Zuwanderung jedoch nicht nur das Angebot an Arbeitskräften, sondern auch die Nachfrage nach Arbeitskräften. In anderen Worten: Zuwanderung vergrössert den Arbeitsmarkt, ohne dass dies zu substanziellen Effekten auf die Arbeitslosigkeit und das Lohnniveau führen muss.
Was bei den Diskussionen rund um die Arbeitsmarkteffekte der Personenfreizügigkeit kaum zur Sprache kommt, ist deren institutionelle Wirkung gegen Lohndumping durch die Stärkung des rechtlichen Status der ausländischen Arbeitnehmenden. Vor der Einführung der Personenfreizügigkeit basierte die Zulassung von Europäerinnen und Europäer zum Arbeitsmarkt auf einem Kontingentssystem. Die Zulassung zum Arbeitsmarkt wurde durch eine fremdenpolizeiliche Behörde nach deren Ermessen entschieden, das Aufenthaltsrecht war eng befristet und an einen bestimmten Arbeitsvertrag geknüpft, und die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der zugewanderten Arbeitskräfte waren begrenzt. Dem gegenüber brachte die Personenfreizügigkeit eine deutliche Stärkung der Rechte ausländischer Arbeitnehmender, indem sie die rechtliche Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt durchsetzte. Welche Effekte dies auf die Löhne haben kann, zeigt eindrücklich eine Studie aus Grossbritannien, die den Effekt der Personenfreizügigkeit auf die Lohnentwicklung osteuropäischer Arbeitskräfte untersucht hat. Durch ein quasi-experimentelles Forschungsdesign konnten die Autoren einen lohnsteigernden Effekt der Personenfreizügigkeit von rund acht Prozent identifizieren. Die Auswertung zeigt, dass der Grund dafür im besseren rechtlichen Status und der gestärkten Verhandlungsmacht von ausländischen Arbeitnehmenden gegenüber ihren Arbeitgebern liegt. Die Personenfreizügigkeit erleichterte es ausländischen Arbeitskräften, den Job zu wechseln (zu einer besser bezahlten Stelle), da die Aufenthaltsbewilligung nicht mehr an einen spezifischen Arbeitgeber gebunden ist. Diese Möglichkeit schafft wiederum vermehrt Anreize, in länder-spezifische Fähigkeiten zu investieren. Somit hat die Einführung der Personenfreizügigkeit in Grossbritannien zu einem substanziellen Anstieg der Löhne zugewanderter Personen geführt und dadurch das Lohnniveau insgesamt gestärkt. Anders gesagt: die Personenfreizügigkeit bringt einen institutionellen Schutz gegen Lohndumping durch die Stärkung der Arbeitnehmerrechte – und dies unabhängig von flankierenden Massnahmen zum Schutz heimischer Arbeitsbedingungen.
Was lässt sich aus diesem Befund ableiten? Die Arbeitsmarkteffekte der europäischen Zuwanderung werden folglich massgeblich durch das involvierte Zulassungsverfahren (Personenfreizügigkeit oder Kontingentregime) bestimmt: Während die verbreitete Vorstellung davon ausgeht, dass die Personenfreizügigkeit durch Angebotsausweitung Lohndumping erleichtere, zeigt die empirische Evidenz, dass die Einführung der Personenfreizügigkeit die Möglichkeit, die Löhne von europäischen Zuwanderern zu drücken, durch deren rechtliche Besserstellung erschwert hat.
[2] Ruhs (2017) The Impact of Acquiring EU Status on the Earnings of East European Migrants in the UK: Evidence from a Quasi-Natural Experiment. Die Studie vergleicht eine Treatment-Gruppe von osteuropäischen Arbeitskräfte dessen rechtlicher Status im Jahr 2004 mit der Einführung der Personenfreizügigkeit verbessert wurde (Tschechien, Slowakei, Polen, Litauen) mit einer Kontrollgruppe aus osteuropäischen Arbeitskräften welche keine Änderung ihres rechtlichen Status erfuhren (Ukraine, Bulgarien). Durch einen difference-in-difference Schätzer kann der kausale Effekt der Einführung der Personenfreizügigkeit auf die Lohnentwicklung isoliert werden.
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