Eine Krise der Werte und Menschlichkeit – Situation für Geflüchtete an der europäischen Aussengrenze

An den EU-Aussengrenzen gibt es keine Migrationskrise, sondern eine Krise der europäischen Migrationspolitik. Eine Krise der Werte und Menschlichkeit. 

Seit Jahren verschlimmert sich die Situation für Geflüchtete an der europäischen Aussengrenze. Diese Krise ist nicht erst gestern entstanden, sondern fügt sich in ein System der stetig verstärkenden Abschottung und Illegalisierung von Migration. Legale Fluchtwege nach Europa sind kaum mehr vorhanden und an der Aussengrenze der EU werden die Menschen nicht nur durch den Ausbau des europäischen Grenzschutzes, sondern immer mehr auch mittels Abkommen mit Drittstaaten an einer Einreise nach Europa gehindert. Der EU-Türkei Deal ist dabei nur ein Beispiel für die restriktive und völkerrechtsverletzende europäische Migrationspolitik. Seit März 2016, als das Abkommen in Kraft trat, dürfen Menschen auf der Flucht die griechischen Inseln nicht mehr verlassen. Sie warten für Monate und Jahre auf den Entscheid, ob sie aufs Festland weiterreisen dürfen oder in die Türkei zurückgeschickt werden. So werden, nebst dem Ausbau des Grenzschutzes, die Menschen daran gehindert nach Europa zu reisen. Die Politik fokussiert sich somit auf die Abschottung – nennt es Begrenzung oder Regulierung – und Menschen auf der Flucht werden zum Spielball der Politik. 

Und erst recht jetzt, während wir die Krise der Pandemie erleben, wird wieder deutlich: Europäische Werte, Menschenrechte und moralisch-ethische Grundlagen für alle scheinen nicht mehr zu gelten. Dies ist unter anderem insbesondere auf den ägäischen Inseln ersichtlich.

Aktuell leben knapp 32’000 Menschen in katastrophalen Zuständen in den Registration and Identification Camps (RIC) auf den griechischen Inseln, obwohl diese offiziell nur Platz für total 9’095 Personen bieten. Es gibt auf den Inseln kaum Zugang zu medizinischer Hilfe oder rechtlicher Unterstützung. Die sanitären Anlagen sind unzureichend und selbst die Wasserversorgung ist oft für Stunden oder Tage nicht gewährleistet. In solchen Zuständen ist die Gefahr eines Covid-19 Ausbruchs enorm, weshalb verschiedene humanitäre Organisationen auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene mit Kampagnen, Statements und Petitionen die sofortige Evakuierung der Camps fordern (z.B. www.evakuieren-jetzt.ch). Menschenleben sind akut gefährdet. Europa, die Schweiz und alle Dublin-Mitgliedstaaten haben diese Zustände mit zu verantworten. Doch auch auf dem griechischen Festland ist die Situation prekär – nach 30 positiven Tests wurde das Camp Ritsona in der Nähe von Athen mitsamt allen 3’000 dort lebenden Menschen unter Quarantäne gestellt. Die staatlichen Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 und zum Schutz gegen die Pandemie zeigen somit, dass Geflüchtete nicht nur keinen adäquaten Schutz erhalten, sondern teilweise aktiv der Gefahr einer Ansteckung ausgesetzt werden.

Die europäische Migrationspolitik braucht dringend eine Reform, damit die Würde und Rechte der Menschen wieder gewährt werden. In der aktuellen Situation geht es zuallererst darum, Menschenleben zu schützen. Die Menschen in den Camps der griechischen Inseln müssen jetzt evakuiert und von den europäischen Staaten aufgenommen werden. Denn, anders als es unser aktueller Staatssekretär für Migration Mario Gattiker besagt (z.B. «Die Situation in Griechenland ist schwierig, aber es gibt keine Krise.», NZZ), glauben die Organisationen vor Ort nicht daran, dass die griechische Regierung willens oder fähig ist die Situation so zu verändern, dass die Menschen menschenwürdig und mit Respekt behandelt werden.

Griechenland hat in den letzten Jahren immer wieder Geldzahlungen erhalten und auch jetzt möchte die Schweiz lieber vor Ort helfen, anstatt Menschen aus Griechenland aufzunehmen. Vor Ort heisst in diesem Fall jedoch konkret, Strukturen zu finanzieren, welche von den Bewohner*innen als “Hölle” bezeichnet werden. Gelder zu geben für Orte, an denen sich Kinder das Leben nehmen wollen. Die menschenunwürdige Behandlung von tausenden von Menschen nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu unterstützen. 

Die Situation auf den ägäischen Inseln ist, wie Jean Ziegler es in seinem Buch deutlich benennt, die Schande Europas. Aber auch der Schweiz, die als Dublin-Mitgliedstaat, aber auch aufgrund ihrer humanitären Tradition, eine Mitverantwortung für diese Situation trägt. 

Was es auf den griechischen Inseln zu retten gilt sind Menschenrechte und Menschenleben – aus diesem Grund kann bei der Krise der europäischen Migrationspolitik von einer Krise der Werte und Menschlichkeit gesprochen werden. 

Wir müssen uns entscheiden, wie wir uns diesbezüglich positionieren wollen.

 

Image shot by the author, Jael Tobler.