Das gescheiterte Rahmenabkommen: Verhandlungsmacht, Demokratie und soziale Rechte stärken

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Der Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen (InstA) muss die Schweiz als Weckruf wahrnehmen: Ein Festhalten am Auslaufmodell der Bilateralen Verträge hat keine Zukunft. Vielmehr sollten die zentralen Ziele in den Verhandlungen innenpolitisch gestärkt werden. Mehrheitsfähig ist in diesem Zusammenhang der Lohnschutz, weil es viele Arbeitnehmer in der Schweiz direkt betrifft. Eine Verschiebung des öffentlichen Diskurses in Richtung sozialer Rechte könnte den Verhandlungen frischen Aufwind verschaffen.

Von Ueli Dutka

Die Ausgangslage

Im Mai 2021 wurden die langjährigen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über das Institutionelle Rahmenabkommen (InstA) abgebrochen. Das Fazit: Es bestehen zu viele Differenzen zwischen beiden Parteien. Die EU weiss nicht genau was die Schweiz will und die EU will der Schweiz zu wenig Zugeständnisse machen, lautet der Tenor des Diskurses.

Die Gewinner der Globalisierung

Betrachtet man die Beziehung der Schweiz zur EU aus einer ökonomischen Perspektive, dann wird klar, dass die Beziehungen ein Geben und Nehmen sind und zwar beider Seiten im gleichen Masse. Die Schweiz ist eine Spezialisierungsmeisterin in Sachen Technik, Forschung, Innovation und Finanzen und die EU ist für die Schweiz ein grosser Markt für Güter, Dienstleistungen und Fachkräfte. Absolut betrachtet profitieren beide von einer Zusammenarbeit, gewisse Kreise jedoch mehr als andere. Gewinner sind die «Vested Interests» wie zum Beispiel multinationale Unternehmen, für die es einfacher ist in zentralisierten Bürokratien Einfluss zu nehmen.

Die Verlierer der Globalisierung

Ganz Europa hat in den letzten Jahren eine Welle rechtspopulistischer Politik zu spüren bekommen. Die Gründe liegen in den vergangenen Jahrzehnten der Deindustrialisierung und des Outsourcings, die einerseits durch die Globalisierung als Ganzes und der Gründung des europäischen Binnenmarkts im Einzelnen begünstigt wurden. Obschon die Globalisierung und der Binnenmarkt die beteiligten Länder als Ganzes reicher gemacht haben, wurden viele Fachkräfte vernachlässigt, allen voran die Arbeiter*innen in der Industrie. Wenn Menschen und Talente vernachlässigt werden, dann muss längerfristig mit ökonomischen und politischen Konsequenzen gerechnet werden. Wie kann aber den Verlierern der Globalisierung geholfen werden? Die Ökonomen argumentieren mit staatlichen Massnahmen, Hilfspaketen und Umstrukturierungen im Arbeitsmarkt. Das klingt zwar gut, nur leider hat der Staat zu wenig unternommen.

Was die Gewerkschaften von den Verhandlungen wollten

In den Verhandlungen über ein InstA mit der EU waren die Forderungen der Gewerkschaften eigentlich klar. Sie setzten sich für einen hohen Lohnschutz ein, weil sie unter anderem befürchteten, dass die Mittelschicht in der Schweiz geschröpft werden und der Niedriglohnsektor in ein Lohndumping abdriften würde. Der Lohnschutz war einer der zentralen Punkte in den Verhandlungen, die das Abkommen zum Scheitern brachte.

Die Frage der sozialen Gerechtigkeit

Das Scheitern des Institutionellen Rahmenabkommens ist eine Chance für Verbände, Gewerkschaften und Parteien, die sich für den Arbeitnehmerschutz stark machen. Die gescheiterten Verhandlungen mit der EU haben auch gezeigt, dass sie eine starke Position vertreten. Diesen Vorteil sollten die Gewerkschaften ausspielen, um die Frage der Lohngerechtigkeit innenpolitisch voranzutreiben und in die Gesetzgebung zu bringen.

Zu starke soziale Ungleichheit führt längerfristig zu ökonomischer Stagnation und soziale Ungerechtigkeit längerfristig zu Konflikten. In der Lösung dieses Problems spielt der Staat eine zentrale Rolle. Die zentralisierten Organe eines Staates sind jedoch viel mehr Bürokratien als politische Organe, weshalb sie ideologischen Impetus aus der Bevölkerung benötigen.

Verhandlungsmacht, Demokratie und soziale Rechte

Was mit den Verlierern der Globalisierung passiert, muss zunächst in der Schweiz geklärt sein, bevor das Schweizer Stimmvolk hinter neuen Verhandlungen mit der EU stehen kann. Die Gewerkschaften sollten ihre gestärkte Verhandlungsposition nun ausspielen. Dass die Schweizer Bevölkerung bereit ist, sich Fragen der sozialen Rechte zu stellen, zeigen die Themen der vergangenen Volksabstimmungen: Ehe für alle und die 99%-Initiative. Aufgrund innerpolitischer Verhandlungen hätte das EDA womöglich einen Grund, die EU weiterhin auf der Geduldsbank verharren zu lassen. Die Schweiz könnte sogar Stimmen für mehr Demokratie und Arbeitnehmerschutz in der EU stark machen und sich so zusätzlich Zeit verschaffen.

Auf jeden Fall sollte klar sein, dass nun etwas passieren muss. Die Verhandlungen über das Institutionelle Rahmenabkommen wurden zwar abgebrochen, die Schweiz-EU Beziehung aber nicht aufgegeben. Die Verhandlungen gehen weiter und man trifft sich zu einem späteren Zeitpunkt wieder. Es öffnen sich momentan neue Wege und die sollte man testen. Die Schweizer Regierung braucht politisches Kalkül für innenpolitische Verhandlungen mit den politischen Kräften, die das Abkommen zum Fall gebracht haben und eine geschickte innen- und aussenpolitische Kommunikation, die den Diskurs diplomatisch in Richtung Arbeitnehmerschutz und Einigung lenken. Diese politische Krise ist eine Chance, um wieder gestärkt und geeint an den Verhandlungstisch zu kommen; was wahrscheinlich eher früher als später passieren wird.

 

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