Der Islam in der Schweiz: Il n’existe pas

Migration

Eine neue Blogreihe widmet sich der muslimischen Minderheit in der Schweiz und möchte neue Überlegungen in die Debatte einbringen und alte Vorurteile widerlegen. Ein Plädoyer für einen ehrlichen Dialog.

 

In Folge der verbreiteten Angst vor Terrorismus und Fundamentalismus rücken der Islam und die Muslime verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch die Schweizer Medien widmen der hiesigen muslimischen Gemeinschaft zahlreiche Beiträge, wobei vor allem Vertreter von radikalen Positionen viel Aufmerksamkeit erhalten. Doch ist eine solche Berichterstattung repräsentativ? Gibt es neben den radikalen Positionen so etwas wie eine schweigende Mehrheit? Und wie sieht diese muslimische Realität abseits der Medienberichte aus?

Der europäische Hintergrund der Schweizer Muslime

Laut einem Bericht des Bundesrats von 2010 leben in der Schweiz ca. 400‘000 Muslime, was 4.5 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Diese muslimische Minderheit ist eine vergleichsweise neue Entwicklung, die hauptsächlich auf die Einwanderung von Arbeitskräften aus Südosteuropa in den 1960er Jahren zurückgeht. Arbeitskräfte, die in den Folgejahren massgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz beitrugen. Entsprechend haben etwa 90 Prozent der Schweizerischen Muslime ihre kulturellen Wurzeln in Südosteuropa sowie der Türkei, wobei rund ein Drittel über die Schweizerische Staatsbürgerschaft verfügt. Somit stammt ein Grossteil der Muslime aus Staaten, die eine ähnlich strukturierte Rechts- und Gesellschaftsordnung aufweisen, wie die Schweiz. Nur gerade 9,7 Prozent der in der Schweiz lebenden Muslime haben ihre sozialen Wurzeln ausserhalb des europäischen Kulturraums, dies im Gegensatz etwa zu Frankreich, wo aus historischen Gründen eine Mehrheit der Muslime aus Nordafrika stammt.

Der migrantische Hintergrund der islamischen Gemeinde in der Schweiz führt wiederum dazu, dass diese eine ausserordentlich innerreligiöse Vielfalt aufweist. So ist in der Schweiz vom Traditionalismus zur Mystik, bis hin zum modernen Strömungen alles vertreten. Eine Mehrheit der Muslime zählt zur Religionsausrichtung der Sunniten, gefolgt von einem grossen Anteil türkischer Aleviten. Bezüglich der Religiosität der Muslime zeigen die Ergebnisse einer Studie der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen (EKM) indes, dass die meisten Muslime den Islam in erster Linie als Teil ihrer Kultur ansehen und nur etwa 10 bis 15 Prozent praktizierend sind. Entsprechend sind auch die insgesamt 350 islamischen Vereine in der Schweiz nicht nach religiösen Merkmalen, sondern nach ihrem jeweiligen nationalen, kulturellen oder sprachlichen Hintergrund ausgerichtet und dienen dabei in erster Linie als Ort der sozialen Begegnung zwischen den Menschen.

Junge Muslime und die Frage nach der Repräsentation

Wie repräsentativ die Vereine jedoch für die muslimische Gemeinschaft sind, ist nach den Ergebnissen einer Studie der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) fraglich. Dort konnte sich ein Grossteil der Befragten nicht mit den Forderungen und Stellungnahmen identifizieren, die Verbandsvertreter und religiöse Führer im Namen der muslimischen Gemeinschaft äusserten. Dies könnte nicht zuletzt mit der Altersstruktur der muslimischen Bevölkerung beziehungsweise mit ihrem hohen Jugendanteil zusammenhängen. So zeigt eine Volkszählung von 2000, dass ungefähr die Hälfte der in der Schweiz wohnhaften Muslime unter 25 Jahre alt war und 2010 rund 72 Prozent der Muslime jünger war als 45 Jahre. Der grösste Teil der hiesigen Muslime ist also in der Schweiz aufgewachsen, zur Schule gegangen und nun arbeitstätig.

DEN Schweizer Islam gibt es nicht

Insgesamt zeigen diese Zahlen der muslimischen Bevölkerung in der Schweiz, dass es den Islam, wie er häufig in der Medienberichterstattung anzutreffen ist, nicht gibt. Der Islam erscheint in erster Linie als Kultur und Identität ganz unterschiedlicher ethnischer Minderheiten in der Schweiz, die in ihrem Alltag kaum religiöser sind als Bürger christlicher Konfessionen. Diese muslimische Realität wird in den Medien allerdings kaum so wahrgenommen, da die schweigende Mehrheit von schrillen Vertretern von Splittergruppen der als homogen wahrgenommenen Religionsgemeinschaft verdrängt wird. Für eine gelungene Debatte über muslimische Minderheiten in der Schweiz sollte diese schweigende Minderheit in den Dialog miteinbezogen werden.