Die Agenda 2030 als Pandemieprävention – oder: Warum die Kürzung von Entwicklungsgeldern auch aus Eigeninteresse eine schlechte Idee ist

Auf den Link zwischen der Zerstörung der Biodiversität und einem erhöhten Risiko für weitere Pandemien wie der Corona-Krise wurde zuletzt häufig hingewiesen. „Die Corona-Krise zeigt auch, dass die Menschheit an einem Wendepunkt steht: sie muss die verbliebenen Naturräume bewahren, vor allem die tropischen Wälder mit ihrer ungeheuren Artenvielfalt – auch zu ihrem eigenen Schutz“, schrieb beispielsweise die NZZ. Und selbst die Weltwoche urteilte, „dass die Gesundheit des Menschen ohne ein ebenso gesundes Ökosystem nicht gewährleistet werden kann“.

Mehrere Staaten haben sich als Folge an den Weltbiodiversitätsrat IPBES gewandt, um in der Pandemie-Präventionspolitik Unterstützung zu erhalten. Der Schutz der Biodiversität an Land ist eines von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, auf welche sich die Vereinten Nationen geeinigt haben – die sogenannte Agenda 2030.

Dass es zum Schutz vor Pandemien neben dem Biodiversitätsschutz weitere Massnahmen brauche, wurde ebenfalls immer wieder beschrieben. So kämen laut dem US-Virologen und WEF Young Global Leader Nathan Wolfe Subsistenzjäger, also für den eigenen Lebensunterhalt jagende Personen, nur deshalb mit gefährlichen tierischen Viren in Kontakt, weil individuell für sie das Ansteckungsrisiko geringer sei als die Gefahr, ihre Familien nicht ernähren zu können. Sind derartige Viren einmal auf Menschen übertragen, wie dies in der Vergangenheit mehrmals der Fall war (neben dem Coronavirus beispielsweise beim Ebolavirus), können sich Pandemien wiederholen. Dies kann dann Auswirkungen auch auf die Schweizer Gesellschaft und Wirtschaft haben. Dass man Jägern bei Massnahmen wie dem Verbieten von Wildmärkten eine Alternative bieten müsse, auch damit solche Massnahmen nicht durch verstärkten illegalen Handel als Folge kontraproduktiv werden, wurde auch von Elizabeth Maruma Mrema, der Exekutivsekretärin der UN-Biodiversitätskonvention, bekräftigt. Eine Hauptherausforderung hier ist die Armut im globalen Süden, deren Bekämpfung sich ebenfalls in mehreren Zielen der Agenda 2030 widerspiegelt. Im Sinne der Prävention weiterer Pandemien sollten diese Ziele also vermehrt angegangen werden. Genau das Gegenteil ist die Strategie der SVP: diese fordert die Halbierung der Entwicklungsgelder für den Zeitraum 2021-2024. Gelder, deren explizites Ziel die Armutsbekämpfung ist. Paradoxerweise begründet die SVP ihre Forderung ausgerechnet mit der aktuellen Corona-Krise.

Doch kommen wir zurück zur Biodiversität: deren schlechter Zustand birgt im Hinblick auf potenzielle zukünftige Pandemien verschiedene Risiken. Wenn die natürlichen Lebensräume von Wildtieren, also möglichen Überträgern von Viren, durch Monokulturen schrumpfen, nähern sich diese vermehrt Plantagen und menschlichen Siedlungen. Daran sind wir in Europa nicht ganz unschuldig. So hat auch die Schweiz im letzten Sustainable Development Report der Bertelsmann Stiftung und des UN Sustainable Development Solutions Network UNSDSN beim Indikator „imported biodiversity threats“ die Note „major challenges“ erhalten. „International trade drives biodiversity threats in developing nations“ betitelten Professor Manfred Lenzen und Kolleginnen und Kollegen bereits 2012 eine Studie, welche sie in Nature, einer der beiden einflussreichsten naturwissenschaftlichen Zeitschriften, veröffentlichten. Der Schutz der Biodiversität ist entsprechend kein alleiniges Problem der Umweltpolitik – Lösungsansätze können sich auch im Handels- und Investitionsrecht finden. Mögliche aktuelle und zukünftige Pfade sind unter anderem Sustainability Assessments im Vorfeld von Freihandelsverträgen, Konditionalitäten und entsprechende Umsetzungsmechanismen in Freihandelsverträgen, Provisionen zur Vereinbarkeit mit Umweltabkommen in Investitionsschutzabkommen (siehe Artikel 15(3) des «SADC Model Bilateral Investment Treaty Template») oder seitens Schiedsgerichten eine verstärkte Nutzung von Artikel 31(3)(c) des «Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge», welcher das Berücksichtigen von Umweltrecht in Investitionsstreitfragen erlaubt.

Auch Massnahmen, welche auf der Nachfrage-Seite ansetzen, können vielversprechend sein. Den entgegengesetzten Weg schlägt der Schweizer Bauernverband ein. Und wie auch die SVP begründet er seine Forderungen ausgerechnet mit der Corona-Krise. Als Antwort auf die geplante Agrarreform des Bundesrats, welche strengere ökologische Anforderungen an die Landwirtschaft stellt (z.B. mehr Flächen für Artenvielfalt), will der Bauernverband stattdessen die Inlandproduktion steigern. Was auf den ersten Blick nachvollziehbar klingt (denn die Produktion im Ausland kann ebenso ihre Tücken haben, siehe vorheriger Absatz), ist auf den zweiten Blick kontraproduktiv: Die Auslandsabhängigkeit nehme laut dem Think-Tank Vision Landwirtschaft bei einer höheren Inlandproduktion nicht ab, sondern zu, insbesondere was den Import von Kraftfutter betrifft. Nicht zu vergessen sind weitere Nachteile – so wurde die Agrarreform des Bundesrats, welche dem Bauernverband zu weit geht, vom Agrarexperten Urs Niggli in einem NZZ-Interview als «Schräubchen drehen» bezeichnet, also als nicht ausreichend. Probleme wie der Verlust der Artenvielfalt, die Überdüngung und der Klimawandel blieben laut ihm ungelöst (und liessen sich ihm zufolge am besten mit einer Reform der Ernährungspolitik bewältigen, während auch Volksinitiativen wie die  Initiative «Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz» zu dem Thema aktiv sind). Dass die genannten Probleme jeweils eine Reihe an Folgeproblemen mit sich bringen – man kann sich die Folgen von erodierten Böden in Kombination mit dem Klimawandel auf Ernteerträge in der Zukunft ausmalen – soll hier nicht weiter ausgeführt werden.

Es wird deutlich: In der Bekämpfung von Pandemien sind verschiedenste Politikfelder eng miteinander verknüpft. Die Sehnsucht nach einfachen Antworten, welche dem gesunden Menschenverstand zu folgen scheinen, ist verständlich. Und doch können einfache Antworten oft das Gegenteil von dem bewirken, was sie zu erreichen vorgeben. Diese Interaktionen zwischen verschiedenen Politikfeldern und Zielen spiegeln sich auch in der Agenda 2030 wider. Sie bietet somit einen systemischen Ansatz, welcher auch in der Pandemieprävention eine Rolle zu spielen hat und der Komplexität der beteiligten Prozesse gerecht werden kann.

Titelbild: Photo by Eva Blue on Unsplash