Die „europäische Identität“: Eine Allzweckwaffe

Migration

Wenn alle Argumente gegen Zuwanderung sich abgenutzt haben, dann bleibt noch der Schutz der europäischen Identität. Was auch immer das ist: sicher ist es ein Trojaner gegen die Freiheit des Einzelnen. Und sie verbaut uns ein Wir-Gefühl, das zukunftstauglich wäre.

 

Nichts auf der Welt ist gleichzeitig so handlich und lässt sich so wenig in den Griff bekommen wie die kollektive „Identität“ einer Region, eines Staates, eines „Kulturkreises“ oder Europas. Eric Gujer, der neue Chefredaktor der NZZ, hat zweimal kurz hintereinander die „europäischen Identität“ als Grund für die Beschränkung von Zuwanderung ins Feld geführt: Einmal in einer Rede an der GV der NZZ, in der er zuerst eingesteht, dass junge Afrikaner auf ihrem Weg nach Europa eigentlich bloss ihres Glückes Schmied sein wollen und damit die Sympathie jedes Liberalen geniessen müssten. Kurz bevor er dann den Wert des Individuums hervorhebt und die Gefahr des Kollektivismus beschwört, begründet Eric Gujer noch, warum im Falle von jungen Afrikanern der „pursuit of happiness“ aber unterbunden werden dürfe: Weil die Europäer ein berechtigtes Interesse daran hätten, sich ihre „Identität zu bewahren“. Einige Tage später – in der Zwischenzeit sind mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ertrunken – wendet Eric Gujer dieses Argument auf die Praxis an. Natürlich nehme die europäische Flüchtlingspolitik bewusst Tote im Mittelmeer in Kauf und natürlich sei das zynisch, schreibt er. Es gehe aber eigentlich nicht anders. Denn der Anspruch auf Humanität stehe in einem „unlösbaren Zielkonflikt mit der Notwendigkeit, die europäische Identität zu bewahren.“

Kann man sie essen? Kann man sie messen?

Offenbar kann also die „europäische Identität“ gegen Menschenleben aufgewogen werden. Es lohnt sich daher, etwas genauer über sie Bescheid zu wissen. Woher kommt sie? Wozu ist sie gut und wie stellt man fest, ob und bis zu welchem Grad sie (durch Zuwanderung) gefährdet ist? Mit anderen Worten: Kann man sie messen?

Was ist Europas Identität? Was immer sie ist – sie sollte jedenfalls nicht gegen Boote auf dem Mittelmeer eingesetzt werden. (Bild: Heinrich Bunting: Europa Prima Pars Terrae In Forma Virginis, 1548, Wikimedia Commons)

Ich glaube, „europäische Identität“ – oder irgendeine kollektive Identität – ist gerade darum so attraktiv, weil sie weder gemessen noch definiert werden kann. Das macht sie gegen bessere Argumente unverwundbar. In einer Debatte über das richtige Mass an Zuwanderung kann zuerst gezeigt werden, dass Migrierende in der Regel eine positive Fiskalbilanz aufweisendass sie kaum Einheimischen die Arbeit wegnehmen, dass sie, wenn überhaupt, dann nur einen relativ schwachen Einfluss auf die Löhne haben und am Ende sogar, dass Migration ein wichtiger Entwicklungsfaktor ist und eine effiziente Form der Armutsbekämpfung. Das sind alles empirische Befunde, die mit anderen empirischen Befunden und mit Kritik an der verwendeten Methodik, der Fragestellung usw. bekämpft werden müssen. Gelingt dies nicht, ist noch immer die „Identität“ zur Hand. Die kann man nicht messen und nicht definieren und die Behauptung, sie sei bedroht, kann nicht widerlegt werden. Noch dazu verfängt sie überall. In Dresden, wo es praktisch keine Ausländer gibt, fühlen sich etwa gleich viele Menschen in ihrer Identität bedroht, wie in London. Es deutet sogar vieles darauf hin, dass die Menschen sich von Ausländern umso stärker bedroht fühlen, je weniger es von ihnen gibt. Als die britische Krone 1792 um die Errichtung einer Botschaft und einer Handelsniederlassung in China ersuchte, lehnte Kaiser Ch’ien Lung ab – mit der Begründung, die chinesische Identität (welche er selbstverständlich für überlegen hielt) würde durch die Präsenz einiger Dutzend Briten zu sehr gefährdet.

Nachfolgerin der „öffentlichen Moral“

Die „Bewahrung der Identität“ funktioniert daher als Argument so, wie Tennis ohne Netz. Man kommt damit immer durch. Das Argument ist unmöglich zu widerlegen. Das heisst aber auch: Wenn die Bewahrung (irgendeiner) kollektiven Identität als legitimes öffentliches Interesse gilt um die Freiheit von Migrierenden einzuschränken (oder die von Künstlern oder Journalisten oder wer sonst sich abweichend verhält), besteht keine Möglichkeit mehr, zwischen angemessenen und unangemessenen Eingriffen in die persönliche Freiheit zu unterscheiden. Man kann nichts nachmessen und nichts widerlegen. Die Idee, es sei öffentliche Aufgabe, eine kollektive Identität zu „bewahren“, ist daher ein Trojaner gegen die Freiheit des Einzelnen. Sie führt uns auf eine schiefe Ebene und ist mindestens so gefährlich wie die „öffentliche Moral“, eine zum Glück inzwischen fast ausgestorbene Allzweckwaffe gegen die individuelle Freiheit.

Bitte nicht berühren

Damit ist nicht gesagt, kollektive Identität existiere nicht oder sei unwichtig. Für das Selbstverständnis einzelner Menschen mag sie wichtig sein und diese mögen eine klare Vorstellung davon haben, was kollektive Identität für sie bedeutet. Aber wenn der Staat diese Identität in die Finger nimmt und sie gegen Menschen richtet, wird sie gefährlich. Und sie wird altbacken. Wer sagt, dass unsere Identität aus der Vergangenheit überliefert worden ist und „bewahrt“ werden muss? Identität könnte ebenso gut (oder besser) durch ein gemeinsames Ziel gestiftet werden, das gemeinsam erreicht und gestaltet werden könnte. Wer sagt, dass Identität etwas ist, was sich aus einer gemeinsamen Herkunft ergibt? Sie könnte sich ebenso gut (oder besser) aus etwas weniger Zufälligem und weniger Statischem ergeben. Zum Beispiel aus gemeinsamen Werten.

In der Globalisierung ist alles in Bewegung geraten. Wie kann dann ausgerechnet das, was uns ein Wir-Gefühl vermitteln soll, an einem bestimmten Ort und in einer vergangenen Zeit verankert bleiben? Als Sinnstifterin ist die europäische Identität zum Untergang verurteilt. Als öffentliches Interesse ist sie gefährlich und unberechenbar.