„Die Unabhängigkeitsbefürworter haben in Katalonien eine kritische Masse erreicht.“

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Entscheiden sich die Katalanen diesen Sonntag für den Weg der Unabhängigkeit? foraus hat sich mit Martì Anglada, Delegierter der katalanischen Regierung in der Schweiz und Frankreich, auf einen Kaffee getroffen.

 

Am 27. September 2015 finden regionale Parlamentswahlen in Katalonienstatt. Die rund 5.5 Millionen Stimmberechtigten entscheiden darüber, wer sie in Zukunft vertritt. Bemerkenswert ist, dass laut Umfragen eine Koalition, die für die Unabhängigkeit der autonomen Gemeinschaft eintritt, gute Chancen auf einen Wahlsieg hat. Am 11. September gingen in Barcelona mehrere hunderttausend Katalanen für ihre Unabhängigkeit auf die Strasse. Die spanische Regierung hingegen legt eine ablehnende und unnachgiebige Haltung gegenüber den Separationsbestrebungen an den Tag. Wir haben dem Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit Martì Anglada einige Fragen zur aktuellen Situation in Nordspanien gestellt.

foraus: In welcher Form fühlt sich ein katalanischer Bürger innerhalb des spanischen Staates diskriminiert?

Es ist nicht das Gefühl der Diskriminierung, das bei den Katalanen und Katalaninnen im Vordergrund steht – auch wenn die spanische Regierung insbesondere die wirtschaftlichen Interessen der Region nach aussen spürbar schlecht vertritt. Die katalanische Bevölkerung hat das Vertrauen in die Zentralregierung vor allem aufgrund innenpolitischer Spannungen verloren. Der 2006 reformierte Autonomiestatus Kataloniens wurde unter der derzeitigen Regierung vom spanischen Verfassungsgericht für ungültig erklärt und die Reform 2010 rückgängig gemacht. Seither hat die Stimmung in der autonomen Gemeinschaft umgeschlagen.

foraus: Wir beobachten heutzutage einige regionalistische Tendenzen in Europa. Gibt es Parallelen zwischen den katalanischen Forderungen und anderen europäischen Unabhängigkeitsbewegungen?

Der einzige Fall, der mit dem katalanischen verglichen werden kann, ist Schottland. Denn die Unabhängigkeitsbefürworter haben in Katalonien eine kritische Masse erreicht. In beiden Regionen können wir nicht mehr von einer separatistischen Minderheit sprechen. Denn eine ausschlaggebende Prozentzahl der Bürger unterstützt die Loslösung von Madrid – oder im Falle Schottlands von London. So etwas wie einen Dominoeffekt gibt es aber sicher nicht: In den meisten anderen Regionen Europas bleiben Unabhängigkeitsbestrebungen eine Randerscheinung.

foraus: Wie würde sich ein unabhängiger Staat Katalonien in das Konstrukt der Europäischen Union einfügen?

Die europäischen Verträge enthalten diesbezüglich keine Klausel. Die Entstehung eines neuen Staats innerhalb der EU – beziehungsweise die Abspaltung von einem bestehenden Mitgliedstaat ist nirgends geregelt. Wir Katalanen sehen unsere Zukunft aber ohne Frage als Mitglied der Union. In Katalonien sind die pro-europäischen Stimmen lauter als in den meisten anderen Regionen Spaniens – so wie übrigens auch Schottland eine europhilere Haltung vertritt als der Rest Grossbritanniens. Wie dem auch sei: Wir streben auf keinen Fall einen Austritt aus der EU an.

foraus: Ein häufig genanntes Argument gegen einen EU-Beitritt der Schweiz ist die Grösse des Landes im europäischen Vergleich. Ein kleines Land wie die Schweiz  würde in der supranationalen Organisation nicht ins Gewicht fallen, was seiner Interessenwahrung letztendlich schadet. Würde ein unabhängiges Katalonien auf europäischer Ebene nicht eher an Bedeutung verlieren?

Die Grösse eines Landes muss relativ betrachtet werden. Katalonien wäre mit ungefähr 7.5 Millionen Einwohnern im europäischen Vergleich ein mittleres bis kleines Land. Länder wie Slowenien oder die baltischen Staaten sind noch um einiges kleiner. Eine eigenständige EU-Mitgliedschaft würde unseren Handlungsspielraum jedoch keineswegs beschränken – im Gegenteil. Nicht immer über den Umweg Madrid verhandeln zu müssen, würde die Position Kataloniens stärken. Für Katalonien würde eine Unabhängigkeit bedeuten, endlich pro-aktiv seine eigenen Interessen wahrnehmen zu können. Bereits heute stellen wir eine der grössten regionalen Vertretungen in Brüssel.

Um nochmals zur Frage der Grösse Kataloniens zurückzukehren: Ich sehe die europäische Zukunft in einer föderalistischen Struktur – die EU als Föderation von kleinen und grossen Mitgliedstaaten.

foraus: Gehen wir mal von folgender Hypothese aus: Katalonien wird ein unabhängiger Staat. Würden die Erzrivalen FC Barcelona und Real Madrid dann nie mehr in der Primera División gegeneinander spielen?

(Schmunzelt.) In der Wirtschaft und im Sport müssen wir pragmatisch denken. 55 Prozent der in Spanien tätigen multinationalen Unternehmen – wie zum Beispiel VW oder AXA – haben ihren Firmensitz in Barcelona. Folglich wird die spanische Regierung mit uns verhandeln. Im Sport ist es ähnlich. Beidseitig gibt es kein Interesse, den Fussball langweilig werden zu lassen. Ich schlage folgende Lösung vor: Die Etablierung einer Iberische Liga, in der sich die besten Clubs aus Portugal, Spanien und Katalonien messen. So bliebe die Möglichkeit, einen „Clásico“ zu spielen, bestehen.

Das Interview wurde ursprünglich auf Französisch geführt.